Hoffen auf die Erlösung

Die deutsche Fussball-Elf ist sprachlos. Ribbecks Kicker erwartet nach dem historischen 0:1 gegen England das befreiende Ausscheiden aus der EM

aus Charleroi BERND MÜLLENDER

Nein, es hat nicht sollen sein: Als Erich Ribbeck, der deutsche Interimsteamchef zwischen Vorgänger Vogts und dem noch unbekannten Nachfolger, mit angespannter, notdürftig überspielter Leichenbittermiene zum Statementen antrat, versagte das Mikrofon seinen Dienst. Deutschland sprachlos. Deutschland zum Schweigen verurteilt. Deutschland ausgeschaltet.

Noch einmal fand Ribbeck (63) in Zusammenarbeit mit einem eilig herbeigerufenen Helfer namens Gerard einen Knopf, der dem Stand der Technologie entsprach („An“) und durfte die Niederlage beklagen, die „bitter“ sei und „weh“tue und zudem – das sagt der Deutsche so gern, wie der Engländer über das Wetter spricht – „unverdient“ gewesen sei. Dann sollten Fragen gestellt werden.

Aber als hätte sich die deutsche Presse abgesprochen und die internationale sich mit ihr spontan solidarisiert – es kam keine. Was Ribbeck sich zurechtgelegt haben mag an Rechtfertigungen, an Erklärungen für schwer nachvollziehbare Auswechslungen, an Hinweisen auf missglückte scheintaktische Winkelzüge – er durfte es für sich behalten. Charleroi am späten Abend: Von Deutschland will keiner mehr etwas wissen.

Auf dem Platz hatten sie es noch einmal wissen wollen, aber sie konnten nicht. Erbsenzähler dürfen Torchancen aufrechnen und Shearers Tor in der 53. Minute beklagen. Doch das war nicht der Punkt. Ein ängstliches englisches Team hatte sie 1:0 niedergekämpft und den „historischen Heldensieg“ errungen, wie die Mail on Sunday vermerkte. Damit hatte England „das älteste und lästigste Gespenst abgeschüttelt“: 34 Jahre lang, seit Wembley 1966, kein Sieg gegen Deutschland bei einem Turnier. Die DFB-Elf war von ihrem sichersten Verbündeten im Stich gelassen worden: dem sonst allgegenwärtigen Dusel. Englands Trainer Kevin Keegan wusste, dass sich die Geschichte einmal nicht wiederholt hatte: „Wir hatten heute das Glück, das sonst Deutschland hatte.“

Dienstagabend gegen 22.35 Uhr in Rotterdam gegen Portugal wird das Aus feststehen. Wenn nicht Glück, exakt auszurechnende rumänische Schützenhilfe anderes zusammenkommen (s. Kasten). Eine Ära wird zu Ende gehen: die des seit 1998 in Deutschland grassierenden Ribbeckismus. Die Folter wird sich selbst besiegen. Die deutschen Fans werden erlöst. Das ist das Versprechen hinter dem „bitteren Abend“ von Charleroi.

Die 14 eingesetzten Spieler dieses historischen Abends waren sehr unterschiedlich aussagefreudig. Jens Nowotny suchte schweigend das Weite. Wie überraschenderweise auch der Mann, der sich sonst zu allem so gern reden hört: Lothar Matthäus. Manche traten als Schönredner auf wie Bankdrücker Thomas Linke: „Wir haben gut gespielt, auch nach vorne.“ Andere zunächst ausweichend wie der Bremer Marco Bode: „Wir haben kein Tor geschossen – so simpel ist das manchmal.“ Und auf Nachfrage, ob man den offenkundigen Schiss der Engländer ungenutzt gelassen habe: „Ja, den Eindruck hatten wir auch. Das haben wir nicht ausgenutzt.“ Warum nicht: „Wir sollten kontrolliert spielen und kein zu großes Risiko eingehen.“

Die nächsten waren fatalistisch wie Didi Hamann vom FC Liverpool: „Je mehr Torchancen man auslässt, desto frustrierter ist man.“ Fünf waren an diesem Abend schon deprimierend viele.

Manche sagten auch was beim Sprechen. Etwa Markus Babbel, der noch einen Augenblick im Heute blieb: „Wir haben gute Spieler, aber nicht die Klasse als Mannschaft.“ Babbel hat die EM bereits abgehakt und denkt voran: „Es gäbe ein Riesentheater, wenn wir jetzt die WM-Qualifikation nicht schaffen würden. Aber wenn man einen Neuaufbau macht, muss man das einkalkulieren. Zum Wohle des deutschen Fußballs wäre das gar nicht so schlecht. Vielleicht haben wir dann eine Zukunft.“

Auch Mehmet Scholl, den die Engländer nicht so freizügig dribbeln ließen wie am Montag die Rumänen, fand positive Aspekte: „Wir haben jetzt eine Mannschaft gefunden.“ Damit meinte er, eine mit ihm, ohne den Jung-Oldie Thomas Häßler (34) und ohne Methusalem Matthäus (39). Nur die Findung war verspätet: „Drei oder vier Spiele in dieser Formation vorher“, so Scholl, „dann wären wir hier eine klasse Mannschaft“ gewesen. Ein Wink zu Ribbeck: Der mit immer neuen unnachvollziehbaren Umstellungen (Häßler rein, raus; dito Hamann, Angriffsformationen wie nach dem Losverfahren) und mit seiner Nibelungentreue zu Hemmschuh Matthäus dies verhindert hatte.

Jens Jeremies, der vor Wochen den Zustand der Elf bereits zielsicher als „jämmerlich“ bezeichnet hatte, wurde energisch: „Mit Pech hat das nichts zu tun. Es passt halt in die letzten Monate.“ Und da passte wenig, in der Zeit der größten anzunehmenden Konzeptlosigkeit. Torwart Oliver Kahn merkte noch an, es habe, ja, „hmmm, „nicht die, äh, alleroptimalste Stimmung“ im Team geherrscht.

Was Markus Babbel bestätigte. Der Münchner über Teamgeist und die Vorgänge im Quartier: „Da gab es einige Sachen in der Mannschaft untereinander.“ Man könne Stimmung „nicht künstlich erzeugen, die muss da sein.“ Details? „Das werde ich bei Gelegenheit sagen.“ Ab Dienstagabend Feuer frei?

Nur: Den sakrosankten Matthäus ausdrücklich zu kritisieren traut sich noch niemand. Das werden sie auch nach Dienstag nicht tun, sondern erst, wenn feststeht, dass er nicht neuer Nationaltrainer wird. Ein Teamchef Matthäus stünde für die DFB-Tradition des „Immer weiter so mit Augen zu und durch“. Und der hätte sich vorwitzige Internmotzer längst notiert.

Gestern Mittag im niederländischen Mannschaftsquartier in Vaalsbroek durfte sich auch Erich Ribbeck freuen: Er wurde wieder gefragt. Und er hat auch geantwortet. Er sah „eine Chance zum Umschwung“. Und kündigte, falls die Erlösung am Dienstag Wirklichkeit wird, indirekt seine eigene Ablösung an: Man werde „sich zusammensetzen“, und dann bald „ein Ergebnis bekannt geben“.