fdp vor neuen untiefen
: Camouflage oder Sinnestäuschung?

In der FDP wittert man Morgenluft. Der Parteitag in Nürnberg ist vorbei, und alle sind zufrieden. Generalsekretär Guido Westerwelle spricht von einer „Zäsur“, Parteichef Wolfgang Gerhardt von einem „außergewöhnlich erfolgreichen Parteitag“.

Kommentarvon KARIN NINK

Camouflage oder Sinnestäuschung? Tatsächlich haben die Delegierten es so eingerichtet, dass jeder der Protagonisten mit dem Gefühl nach Hause fahren konnte, er habe sein Ziel erreicht: Wolfgang Gerhardt ist Parteichef geblieben. Seine Position wurde offiziell nicht in Frage gestellt. Doch er ist mehr denn je ein Vorsitzender auf Abruf. Guido Westerwelle hat die ihm wichtigen parteipolitischen Veränderungen in der Sozialpolitik und in Bürgerrechtsfragen durchgesetzt. Er sieht seine Mannschaft auf einem neuen, von ihm vorgegebenen Kurs. Jürgen Möllemann schließlich fuhr mit dem schmeichelhaften Gefühl nach Düsseldorf, den desorientierten Freidemokraten eine Vision verkündet zu haben: die Liberalen als „Volkspartei“ der Informationsgesellschaft mit eigenem Kanzlerkandidaten und mindestens 18 Prozent der Stimmen.

Zufriedenheit also auf allen Seiten. Dabei ist doch nichts geklärt. Neuer Streit ist vorprogrammiert. Tatsächlich ist der Zeitpunkt, sich neu zu positionieren, für die FDP so günstig wie lange nicht mehr: Das Parteiengefüge verändert sich. Die CDU ist noch lange nicht aus dem Tief, in das sie der Spendenskandal geschleudert hat. Die Grünen sind in der Sinnkrise. Die Sozialdemokraten werden zunehmend wirtschaftsliberaler. Liberale Werte wie Eigenverantwortung, Liberalität, Freiheit und wenig Staat sind im Internetzeitalter so chic wie lange nicht mehr. Hier kann die FDP zweifellos neue Wählerpotenziale erschließen. Sie wird aber den günstigen Zeitpunkt der Neuorientierung verpassen, wenn sie sich weiter in Personalquerelen und Führungsdebatten zerfleischt.

Wolfgang Gerhardt hat seine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz im nächsten Jahr sicherheitshalber schon jetzt angekündigt. Doch er ist kein Protagonist für die neue, zukunftsorientierte FDP, wie sie sich Möllemann und Westerwelle vorstellen. Den alten Newcomer drängt es selbst in Führungsaufgaben auf Bundesebene – und das erst recht jetzt, wo die rot-grüne Koalition in NRW steht. Und der Generalsekretär wird sich entscheiden müssen: zwischen seiner Loyalität zu Gerhardt und seinen Vorstellungen von einer modernen FDP. Die liberale Zerreißprobe steht weiterhin bevor.

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