Ein zweifelhaftes Vergnügen

Der Siedler Verlag hat aus biografischen Fragmenten des bedeutenden Politologen Theodor Eschenburg eine „Autobiografie“ gebastelt. Das ist unehrlich und einer großen Persönlichkeit nicht angemessen, meint Ernst Benda

Also hören Sie mal zu: Was Theodor Eschenburg über sein langes Leben zu erzählen weiß, ist immer farbig, oft amüsant, manchmal ein wenig hinterhältig – so wie die Geschichte über Helmut Kohl, der Eschenburg bei einer Begegnung in den Siebzigerjahren daran erinnerte, dass er zwanzig Jahre früher in einem seiner beiden Seminare über Parteienfinanzierung gesessen habe. Darauf Eschenburg: „Sie haben leider, wie sich gezeigt hat, nichts gelernt.“ Eine „Laune des Augenblicks“, so Eschenburg, die „nicht fair“ war. Da er im Juli 1999 starb, konnte er sein Urteil nicht mehr auf den neuesten Stand bringen. Überhaupt Helmut Kohl. Er wird gleich dreimal mit einer Exsamensnote versehen, die ihn als Kanzler bewerten soll: mal mit „an der oberen Grenze des Mittelmaßes“ (im Text); mal in den beigefügten Interviews mit „auf der obersten Grenze des Mittelmaßes“ oder „sehr gute Mittelmäßigkeit“ (im Anhang). Das ist, wie der Hochschullehrer oder der Student weiß, eine Benotung zwischen „befriedigend“ und „vollbefriedigend“, und das macht schon einen Unterschied. So etwas liest man, zustimmend oder nicht, mit Interesse.

Wer wie Eschenburg die Kanzler der Bundesrepublik persönlich kannte, kann sich schon ein Urteil erlauben, und je mehr sich die Darstellung der Gegenwart nähert, desto hilfreicher kann sie für die eigene Urteilsbildung sein. Dass er Kurt Georg Kiesinger, den Bundeskanzler der Großen Koalition von 1966 – 1969, einen „parfürmierten Schwaben“ nannte, dem „immer wieder die Eitelkeit in die Quere kam“, will heute kaum noch jemand so genau erfahren – und die, die Kiesinger kannten, wissen das eh schon, oder sie finden, wie ich, ein so grobnoppiges Urteil ungerecht. Viel sorgfältiger, kenntnisreicher und fairer ist die Darstellung von Ludwig Erhard – den er schon aus der Kriegszeit kannte –, vor allem wenn es um die Gründe seines Scheiterns als Bundeskanzler geht. Über Adenauers Kanzleichef Hans Globke, der als Kommentator der Nürnberger Rassegesetze einer verbreiteten moralischen Verurteilung anheim gefallen ist, urteilt Eschenburg sogar vorsichtig positiv. Das sind bemerkenswerte Beiträge zur Geschichte der jungen Bundesrepublik.

Letzten Endes meine ich doch, dass das kein Zufall ist: Die Schilderung der Nazizeit, des Zusammenbruchs und der mühsamen Jahre des allmählichen Aufbaus in Württemberg-Hohenzollern, im Südweststaat und dann in der jungen Bundesrepublik ist farbig und plastisch, und sie macht jene Zeit lebendig. Das ist eine Geschichtsschilderung, die keine erzählenswerte Geschichte auslässt, aber zugleich Entwicklungslinien aufdeckt. Wer die wissenschaftlichen Arbeiten des Tübinger Politikwissenschaftlers kennt, wird nicht überrascht sein. Schließlich haben gerade seine in der Frühzeit der Bundesrepublik entstandenen Arbeiten ihren Wert auch für die politischen Auseinandersetzungen von heute behalten.

Je mehr sich aber die „Erinnerungen“ der Gegenwart nähern, desto schwächer wirken sie. Was Eschenburg über Helmut Schmidt und Willy Brandt zu berichten weiß, liest sich immer noch ganz gut, aber viel Neues erfahren wir nicht. Der Kanzleramtsspion Guillaume, dessen Tätigkeit zum Sturz Brandts führte und über den eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von Eschenburg nachdachte, wird merkwürdiger Weise sogar falsch geschrieben. Das ist nicht wichtig, aber man wundert sich, dass das einem so akribischen Beobachter unbemerkt durchgegangen sein soll. Auf den letzten hundert Seiten wird das Buch dünn, und es wird leider auch langweilig. Über die Zeit von Helmut Kohl – immerhin waren seit Beginn seiner Regierungszeit bis zumTode des Memoirenschreibers 17 Jahre vergangen – erfährt der Leser bis auf die oben erwähnten Sottisen schlechthin nichts. Soll das alles gewesen sein, was der bis zu seinem Tode vorzüglich informierte Autor zu berichten und zu kommentieren wusste?

Die Lösung findet sich in der ganz an den Schluss gesetzten „Editorischen Notiz“ von Hermann Rudolph. Erst durch sie wird klar, wieso die Darstellung der Zeit nach Schmidt und Brandt an das synthetische Putenschnitzel erinnert, das man in den berüchtigten Fast-Food-Ketten zu sich nehmen kann: Es ist schon authentisches Fleisch, aber es ist nicht vom Stück geschnitten, sondern künstlich aus Teilen zusammengesetzt.

Die Erinnerungen behaupten auf dem Buchdeckel und im Titel, sie behandelten die Zeit von 1933 bis 1999. Die Verlagsnotiz gesteht, dass Eschenburg keineswegs alles selbst geschrieben hat. Bei seinem Tode im Sommer 1999 hinterließ er ein Manuskript von etwa 200 Seiten, „zum Teil in recht fragmentarischer Fassung“. Es erfasste nur die Jahre bis 1952, also die frühen Jahre der Kanzlerschaft von Adenauer. Was danach kam, beruht auf Gesprächen, die von Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest mit dem „Autor“ geführt wurden, aber die Gespräche fanden schon bis 1984 und 1985 statt. Für die Zeit danach gibt es nichts, sieht man von den Aufsätzen und Interviews mit Theodor Eschenburg ab. So ist es kein Wunder, dass die Darstellung immer dünner wird; die letzten 15 Jahre, die Zeit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl, die Dramatik des Einigungsprozesses und die großen weltpolitischen Veränderungen, all das suchen wir vergebens.

Vielleicht wäre ich nachsichtiger, wenn der Verlag sein editorisches Bekenntnis nicht an den Schluss gesetzt, sondern in ein Vorwort gebracht hätte. Das hätte sich so gehört. Wer beim Lesen eines Kriminalromanes zuerst die letzten Seiten aufschlägt, bringt sich um die Spannung, und so habe ich auch diesen Text von vorne nach hinten gelesen und auf diese Weise die Aufklärung erst zum Schluss erhalten. So fühle ich mich an der Nase herumgeführt: Von Erinnerungen kann man allenfalls hinsichtlich der Darstellung sprechen, die bis in die Fünfzigerjahre reicht. Gewiss kann man unterstellen, dass die Herausgeber – Siedler, Fest, Rudolph oder wer auch immer; genannt werden sie nicht – sich bemüht haben, die Darstellungsweise und den Stil von Eschenburg so gut wie möglich nachzuempfinden. Am Beispiel der Bewertung von Helmut Kohl als Kanzler sieht man, wie das gegangen sein mag: Aus Aufsätzen oder Interviews werden die Textbausteine geholt, aus denen dann dieser Teil der „Erinnerungen“ gebastelt worden ist.

Es wäre ehrlicher gewesen und der Eindruck einer Mogelpackung wäre vermieden worden, wenn die Texte so, wie sie beim Tode von Eschenburg vorlagen, gebracht worden wären, meinetwegen fragmentarisch, wo nicht mehr vorlag, oder meinetwegen auch redigiert, wenn dies, wie es wissenschaftlicher Redlichkeit entspräche, jeweils gekennzeichnet worden wäre. Für die zeitliche Lücke, die dann hinsichtlich der späteren Jahre verblieb, hätten neben den drei veröffentlichten Interviews noch andere Beiträge zur Verfügung gestanden und genutzt werden können. Die dem Politikwissenschaftler und dem Verfassungsrechtler wohl bekannten Arbeiten von Theodor Eschenburg behandeln viele hochaktuelle Themen, wie etwa die heute erörterten Fragen der Parteienfinanzierung oder der Entwicklung der Bundesrepublik zum Parteienstaat, und in seinen bis in die letzten Jahre gegebenen Interviews hat er sich sachkundig und mit schonungsloser Offenheit auch zu tagespolitischen Fragen geäußert. Das hätte man ganz gut zu einem Buch zusammenfassen können.

Also hören Sie mal zu: Letzten Endes meine ich doch, dass man so mit dem Nachlass einer großen Persönlichkeit nicht hätte umgehen sollen. Und ob der Titel des zweiten Erinnerungsbandes wirklich von ihm so vorgesehen war, würde ich auch gern wissen. Er ist zu unbestimmt, zu vage und zu neckisch, als dass ich glauben möchte, dass er dem direkten, schnörkel- und schonungslosen Sprachgebrauch von Eschenburg angemessen ist.

Theodor Eschenburg: „Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933 –1999“, Siedler Verlag, Berlin 2000, 288 Seiten mit 38 Abbildungen, 39,80 DM

Autorenhinweis: Der Rezensent Ernst Benda, 1925 in Berlin geboren, gehört der CDU an, war 1968/69 Bundesinnenminister der Großen Koalition und wurde 1971 einstimmig zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes gewählt. Unter seinem Vorsitz wurden Urteile zum Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR, zum Radikalenerlass und zu den Abgeordnetendiäten gefällt. Nach Ablauf seiner zwölfjährigen Amtszeit lehrte er bis 1993 an der Universität Freiburg und beriet als Verfassungsexperte verschiedene Regierungen im In- und Ausland. Seit 1992 sitzt er der Medienanstalt Berlin-Brandenburg vor. Theodor Eschenburg hat er nicht nur gekannt und geschätzt, mit ihm verband ihn auch eine Leidenschaft: das Pfeife rauchen.

Hinweis:Wer wie Eschenburg die Kanzler der Bundesrepublik persönlich kannte, kann sich schon ein Urteil erlauben