Großes Ding mit Gehirn

■ Der Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn über die Zukunft der Chemie und den verantwortlichen Umgang mit ihr

Jean-Marie Lehn ist „ein großes Ding mit einem Gehirn“. Das zeigt sich daran, dass der Nobelpreisträger der Chemie von 1987 einen wuchtigen Zeithorizont aufspannt, wenn er über die Entwicklung seiner Wissenschaft und ihre Folgen für die Menschheit spricht: Millionen Jahre, in denen die heutige Menschheit nur als Zwischenstadium auftaucht und nicht das Recht habe, den Fortschritt der Wissenschaft zu blockieren und es im übrigen auch gar nicht könne.

Lehn, Professor am Collège de France in Paris, hielt am Montag Abend auf Einladung von Stadt, Universität und Zeit-Stiftung die Vierte Hamburg Lecture an der Universität. Mit den Lectures will der Senat die Universität stärker in den öffentlichen Diskurs der Stadt einbeziehen.

Die Frage nach der gesellschaftlichen Kontrolle neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Bürgermeister Ortwin Runde in seiner Begrüßungsrede aufwarf, verwies der französische Nobelpreisträger glattweg an die Gesellschaft: Die Wissenschaft bringe neue Erkenntnisse. Was damit geschehen soll, müsse die Gesellschaft entscheiden.

Er selbst würde nicht aufhören, an gefährlichen Themen zu forschen, denn, so Lehn, „wenn ich es nicht tue, würde es ein anderer tun“. Im Sinne zukünftiger Generationen sei die Menschheit zum Weiterforschen verdammt, denn schließlich könne niemand wissen, welche Probleme sich in tausend, zehntausend oder einer Million Jahre stellen. „Die Leute, die sagen, wir sollen stoppen, die sind sehr arrogant“, kritisiert Lehn, „die glauben, wir sind der Höhepunkt.“

Das Experiment mit der Atomenergie hätte seiner Ansicht nach schlechter ausgehen können: „Das ist ein Punkt, an dem man sehen kann, ob die Menschheit reif genug ist, um so etwas vernünftig zu benutzen.“ Immerhin habe die Kritik an dieser und anderen gefährlichen Techniken dazu beigetragen, diese sicherer zu machen.

Zu große Risikoscheu aber sei schädlich, und schließlich seien die Prioritäten richtig zu setzen: Statt in Deutschland den Grenzwert für ein Gift um eine weitere Stelle hinter das Komma zu drücken, wäre es sinnvoller, zu geringeren Kosten in der Dritten Welt an den Stellen vor dem Komma zu arbeiten.

Lehn, der selbst Moleküle gebaut hat, die wie Poren selektiv Stoffe schleusen, zeigte sich begeistert von der Möglichkeit, chemisch eine immer vielfältigere zweite Welt zu erzeugen. Dabei würde der Nobelpreisträger auch vor dem Menschen selbst nicht Halt machen: Wenn der Mensch „ein großes Ding mit einem Gehirn“ ist, wie er glaubt, dann sei es gleich, ob die dazu gehörenden Sensoren künstlicher oder natürlicher Art sind. Gernot Knödler