Mutterschoß für Riesenbabys

Wahre Lokale (25): Das ewige Jugendzentrum „Logo“ im vorderen Kreuzberg Berlins

Die Kneipe ist eine Stätte der Regression. Ganz gezielt wird hier der Verstand vertrunken. Der Trinker will zurückkehren auf das Sprachniveau und zu den sehr eingeschränkten Körperkoordinationsfähigkeiten eines Kleinkindes. Deshalb sitzen in einer richtigen Kneipe bis heute vorzugsweise Männer. Während Frauen tatsächlich irgendwann erwachsen werden, bleiben Männer zeit ihres Lebens nichts weiter als kleine Jungs in großen Körpern. Oder, wie der Dichter August Strindberg bereits 1887 wusste, „Riesenbabys“. Das ist so und wird so lange so bleiben, bis die Menschheit demnächst von einer höheren Intelligenz abgelöst wird.

In einer richtigen Kneipe ist es deshalb schummrig wie im Mutterschoß. Es muss in ihr auch so ähnlich riechen. Feucht braucht es nicht unbedingt sein, denn das sind ja schon die alkoholischen Getränke. Das „Logo“ an der Blücher-/Ecke Urbanstraße in Berlin-Kreuzberg ist so eine richtige Kneipe. Allerdings scheint man hier auf halbem Regressionswege stehen geblieben zu sein, denn das Interieur des „Logo“ erinnert weniger an einen Uterus denn an ein Jugendzentrum. Genauer: an ein Jugendzentrum in den frühen Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts auf dem Lande, irgendwo in der Nähe von Diepholz, Holzminden oder Wiesloch.

Die Theke wurde wohl vor Jahren aus einem ganzen Baumstamm selbst geschnitzt von jungen Menschen, denen ein Sozialarbeiter mit Sachverstand zur Seite stand. Auch die Zapfanlage legt Zeugnis ab von heroischen Do-it-yourself-Tagen: Aus diversen Motorradmotorteilen hat man sie kühn zusammengeschweißt. Der große Kunststoffoleander, in einem Bierfass wurzelnd und bald den halben Schankraum füllend, wurde, das steht fest, mühsam selbst in einem Kunstoffoleanderwald gerodet. Fix noch den schwarzen Noppenkunststoffboden von einer Arbeitsamtbaustelle gemopst und dann verklebt, und fertig war die Laube, ach nee, das „Logo“.

Nun ja, nicht ganz, denn was zu einem richtigen Jugendzentrum noch fehlte, war ein Raum fürs jugendgerechte Amüsement. Auch den gibt’s heute, komplett und stilecht mit rohem Schwartenholz ausgeschlagen. Hier stehen ein Poolbillard, ein echter Flipper, zwei elektronische Darts-Apparate und, als einzige Konzession ans frühe 21. Jahrhundert, ein Fußballcomputerspiel.

Okay, die Musikbox ist mit CDs bestückt. Das gab’s auch noch nicht vor rund zwanzig Jahren. Doch ein geheimer Retromechanismus macht, dass sie nur Stücke von U2 spielt, von BAP, Lynyrd Skynyrd, den Rolling Stones und den Toten Hosen. Musik also, komponiert nur zu einem Zweck: nicht „for airports“, nicht „for films“, sondern „for Jugendzentrums“.

Die Speisen- und Getränkekarte des „Logo“ jedoch macht die Achtzigerjahre-Landjugendzentrumsillusion erst perfekt. Aber was heißt hier Karte? Natürlich gibt es, weil eher uncool, keine. Getrunken werden die Traditionsgetränke „Futschi“, „Ossi“ oder „Kaffee mit Kuh“, gegessen Chili con Carne oder Bulette. Und weil der Jugendliche Anfang der Achtziger noch über wenig Taschengeld verfügte, sind die Preise dementsprechend: Mixgetränke (zum Beispiel Gin-Tonic) kosten den größten Teil des Tages sagenhafte 2,50 DM, das Chili con Carne 4,50 DM.

In einem unterscheidet sich das Berliner „Logo“ von seinem historischen Vorbild aber doch. Während Letzteres nämlich spätestens beim ersten Käuzchenschrei schließen musste, signalisiert die Leuchtreklame des „Logo“ vierundzwanzig Stunden am Tag: „Open“! Morgens um sieben wechseln die Sozialarbeiterinnen hinterm Tresen, eine Putzfrau wischt kurz durch, und dann geht’s weiter mit Daddeln, Trinken und Abhängen. Damit haben die Betreiber des „Logo“ ihren Gästen den größten Kinder- beziehungsweise Jugendlichentraum überhaupt erfüllt: nicht ins Bett gehen zu müssen.

Das Publikum des „Logo“, Jugendliche im Alter zwischen 20 und 60 Jahren, mit langen und mit kurzen Haaren, mit Schnauz oder ohne, bedankt sich dafür mit seiner großen Treue. In letzter Zeit aber füllt sich das „Logo“ kaum noch. Es hat den Anschein, als stürben langsam die klassischen Jugendlichen aus. Die Zeichen mehren sich, dass die Zeiten der Menschheit zu Ende gehen und unsere Gattung demnächst abgelöst wird – von einer höheren Intelligenz.

Dann sollte als Epitaph auf unser aller Grabstein nur ein Wort stehen. Natürlich, aber sicher, ganz klar: „Logo“!

CHRISTIAN Y. SCHMIDT

Hinweis:Morgens um sieben wechseln die Sozialarbeiterinnen hinterm Tresen, eine Putzfrau wischt kurz durch, und dann geht’s weiter mit Daddeln, Trinken und Abhängen