Auch böse Menschen singen

Mit Ferdinand Bruckners Nach die Rassen verabschieden sich Anja Gronau und das Thalia von der Spielstätte in der Kunsthalle  ■ Von Christian Schlüter

Es ist so weit, das unwiderrufliche Ende der Demokratie, dieser feigen und trägen Veranstaltung, kündigt sich an. Ihr Abriss hat längst begonnen. Ein heroisches Zeitalter steht uns bevor. Herrenmenschen und Züchtungsfanatiker treiben ihr Unwesen. Es soll wieder eine echte Gemeinschaft sein, ein reiner Volkskörper, in dem der Einzelne ganz aufgehen kann.

„Endlich bin ich nicht mehr ich“, ruft der Student Karlanner, und gibt nicht nur seine Zukunft als Arzt, sondern auch die Liebe zu seiner jüdischen Freundin Helene auf. Er will zur „Bewegung“ gehören, „authentisch“ sein, mit seiner ganzen Existenz. Doch schon bald verliert er die Kontrolle, seine Begeisterung fordert Opfer, nicht zuletzt ein eigenes. Denn als ihm Skrupel kommen und er wieder aussteigen möchte, ist es zu spät.

Mit dieser Geschichte wollte Ferdinand Bruckner vor dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus warnen: Sein Stück Die Rassen beschreibt die Verführung durch eine gewalttätige Massenbewegung. Es ist 1933 entstanden und in Zürich uraufgeführt worden, Bruckner hatte zu dieser Zeit Deutschland schon verlassen. Im Berlin der zwanziger Jahre gehörte er gemeinsam mit Bertold Brecht und Arnolt Bronnen, der später dem Nationalsozialismus zu Diensten war, zur literarischen Avantgarde. Sein umfangreiches dramatisches Werk ist ganz von der pessimistischen Stimmung des Spätexpressionismus zwischen den beiden Weltkriegen geprägt. Die Rassen fasste Bruckner mit seinen Stücken Krankheit der Jugend und Die Verbrecher zu dem Zyklus „Jugend zweier Kriege“ zusammen.

Die junge Hamburger Regisseurin Anja Gronau hat sich, nachdem sie auf Kampnagel bereits Krankheit der Jugend in Szene setzte, ihr zweites Stück von Bruckner vorgenommen. Ihre einstündige Version Nach Die Rassen war bereits beim diesjährigen Regiewettbewerb der Wiener Festwochen zu sehen. Nun hat sie als Beitrag zum „Fox-Force-Five-Festival“ im TiK, mit dem sich das Thalia-Theater von seinem Domizil in der Kunsthalle verabschiedet, auch in Hamburg Premiere.

taz: Was interessiert Sie an Ferdinand Bruckner?

Anja Gronau: In erster Linie seine Zeitzeugenschaft. Bruckner hat die „Machtergreifung“ Hitlers aus nächster Nähe miterlebt. 1933, als er im Exil Die Rassen schrieb, konnte er weder vom Holocaust noch vom Zweiten Weltkrieg etwas wissen. Trotzdem hat er die Gefahren der nationalsozialistischen „Bewegung“ erkannt. Er bietet uns also keine Erklärung im Nachhinein, vielmehr beschreibt er, was mit den Menschen in dieser Zeit los war, was sie bewegt hat, und vor allem auch, welche Hoffnungen sie mit dem Nationalsozialismus verbunden haben.

Ihre Inszenierung beruht allerdings nicht nur auf dem Stück von Bruckner. Sie haben neben Textpassagen von Arnolt Bronnen und Martin Heidegger auch solche von Botho Strauss und Alain de Benoist, dem Vordenker der Neuen Rechten in Frankreich, eingearbeitet.

Was Bronnen, Heidegger, aber auch andere betrifft, so ging es mir darum herauszufinden, was man in der Zeit gelesen hat, um die Stimmung. Man muss sich vorstellen, Gymnasiasten machten sich auf, um Oberschlesien zu retten, damit es nicht an Polen fällt, Es herrschte im allgemeinen eine Enttäuschung über die schwache Weimarer Demokratie.

Und die aktuellen Autoren? Sehen Sie eine Parallele zur Jetztzeit?

In meiner Inszenierung gibt es keine braunen Uniformen, auch keine Hakenkreuzfahnen. Das hat mich nicht interessiert. Mich interessieren Menschen, die beseelt sind von einer Idee, und die Frage, wann so etwas gefährlich wird und Opfer fordert. Eine schwierige Frage. Der Nationalsozialist war antisemitisch; zugleich hat er all denen ein ideologisches Obdach gegeben, die sich endlich gegen die Vorherrschaft wirtschaftlicher Interessen wehren, die keine Verlierer mehr sein wollten. Hier sehe ich durchaus Parallelen zur Gegenwart.

Können Sie das etwas näher erläutern?

Die Gesellschaft, in der wir heute leben, wird nur noch durch Gesetze zusammengehalten – wie durch eine leere Form, abstrakte Regeln, an die keiner mehr glaubt. Darin regiert der Konsum, er verdeckt den Mangel, die Leere. Genau dies weckt die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Nähe zu anderen Menschen, Solidarität, danach, ein einziger Körper zu werden. Damit hängt wohl auch die Sehnsucht nach der Nation und einer starken Vaterfigur zusammen. Sie steht für die Idee der Reinheit, frei von allen materialistischen Werten, also für einen Zustand der Unschuld.

Um eine Utopie der Reinheit geht es ja auch in Bruckners „Die Rassen“.

Ja, in dem Stück treffen sich fünf junge Leute, die eine Idee von der besseren Welt haben, ein einigendes und reines Ideal. Bedingt durch die gesellschaftlichen Umstände entsteht jedoch gegenseitiges Misstrauen, die Gruppe zerfällt, Ausschlussmechanismen entstehen und mit einem Schlag sind die einstmals positiven Ideen zerstört.

Vielleicht ist es so, wie Michel Houellebecq in seinem Buch „Elementarteilchen“ beschrieben hat: Er schildert dort die Verletzungen und Zerstörungen der Individuen in unserer fröhlich-kapitalistischen Warenwelt, alle werden Opfer, wenn es so weiter geht. Zum Schluss entwirft er allerdings eine konkrete Utopie, das Klonen. Ich verstehe das so, dass dadurch alle Brüder werden, die Verbrüderung der Menschheit durch das Klonen! Eine große Weltfamilie wird entstehen, ein Zustand der Unschuld.

Das halten Sie für eine gute Idee?

Während der Vorbereitungen, als wir Lieder probten, haben wir eine eigentümliche Erfahrung gemacht. Das Singen von HJ-Liedern ließ, so abscheulich auch ihr Inhalt war, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen. Eine sehr ambivalente Erfahrung: Zum einen die Unschuld des Singens und die erlebte Gemeinschaft dabei, zum anderen die antisemitische Hetze und Gewalttätigkeit. Dennoch: Schade, dass es keine gemeinsamen Lieder mehr gibt...

Na ja, es kommt darauf an...

Und es gab eine weitere, uns erschreckende Erfahrung bei den Proben. Als wir uns, die wir uns doch für humanistisch und aufgeklärt hielten, die Frage stellten, welche Vorurteile uns zu Juden einfallen, mussten wir feststellen, dass viele von ihnen den grässlichen Karikaturen aus dem „Stürmer“ entsprachen. Es war erschreckend zu bemerken, wie tief antisemitische Vorurteile sitzen.

Von der Selbsterfahrung und ihrem möglicherweise therapeutischen Nutzen einmal abgesehen: Was bietet Ihre Inszenierung dem Zuschauer?

Bruckners expressionistische Sprache, seine mitunter plakativen Bilder, sein bis zur Karikatur verzerrtes Personal – all das mag uns heute etwas befremden, wenigstens aber als zu einfach gestrickt vorkommen. Doch mit seinen Mitteln zeigt er uns, wie dünn das ist, was man die „Kruste der Zivilisation“ nennt.

Premiere: Do, 22. Juni, 20 Uhr weitere Vorstellungen: 23. Juni, 19 Uhr + 27. Juni, 22 Uhr + 28. Juni, 20 Uhr + 29. Juni, 17 Uhr, TiK