Demokratie unter Aufsicht

Bis zum Herbst will die Internet Corporation for Assigned Numbers an Names (ICANN)ihre Direktoriumskandidaten für die ersten weltweiten Wahlen im Internet aufstellen

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Wann immer Mitglieder der ICANN öffentlich auftreten, sagen sie zuerst, was die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers nicht ist. Auch Andrew McLaughlin, Chief Policy Officer der kalifornischen Organisation, machte keine Ausnahme von dieser Regel. Die Bertelsmann-Stiftung lud ihn letzte Woche nach Gütersloh, um deutschen Journalisten noch einmal zu erklären, warum sie sich für ICANN engagieren sollten.

Selbstverständlich ist das keineswegs. Wenn McLaughlin Recht hat, dann hat ICANN mit all den juristischen und und moralischen Problemen nichts zu tun, die in Europa gern mit dem Internet verbunden werden. ICANN kümmert sich nicht um Zensur und Jugendschutz, Wirtschaftskriminalität, Vandalismus oder die Besteuerung im Internet. Das alles, sagt der Harvard-Jurist, sollte den Regierungen überlassen bleiben. Denn ICANN sei keine Regierung und handle auch nicht an Stelle von Regierungen.

Was also ist ICANN? Schon diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, und noch schwieriger ist zu verstehen, warum diese vor zwei Jahren auf Anregung der Clinton-Regierung gegründete Organisation eine Kampagne ins Leben rief, die ihresgleichen sucht. ICANN führt Wahlen im Internet durch: Knapp die Hälfte ihres Direktoriums soll mit gewählten Vertretern der Internet-Weltgemeinde besetzt werden.

Zunächst fünf dieser später neun Volksvertreter werden schon in diesem Herbst gewählt – jeweils einer für die fünf Erdteile. Noch bis Ende August können sich die Wahlbürger des Cyberspace in die Listen von ICANN eintragen. Eine E-Mail- und eine gültige Postadresse genügen. Unter www.icann.org steht für die Anmeldung ein Onlineformular zur Verfügung; sobald die zur Kontrolle per Briefpost zugeschickte PIN-Nummer eingetroffen ist, kann das neue Mitglied des Wahlvolkes seine Bürgerrechte wahrnehmen.

Ehrenämterfür Lobbyisten

Dazu gehört auch das passive Wahlrecht. Ende Juli beginnt die Kandidatenfindung, die zwei Kategorien kennt: zum einen die Nominierung durch ein von ICANN bestelltes Komitee, zum andern die „Selbstnominierung“ registrierter Wähler, die dann akzeptiert wird, wenn der Kandidat unter anderem „breite Unterstützung“ aus seinem Erdteil nachweisen kann. Dazu kommen weitere Bedingungen: Die Bewerber müssen über Sachkompetenz, hinreichend freie Zeit und nicht zuletzt über finanzielle Unabhängigkeit verfügen – ICANN verspricht lediglich, die Reisekosten für die Sitzungen zu übernehmen. Ihren Lebensunterhalt müssen die Gewählten selbst bestreiten, und zwar so, dass sie sich ungefähr vier Monate im Jahr ausschließlich ihrem Ehrenamt widmen können.

Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass damit allein freigestellte Lobbyisten der IT-Branche kandidieren können. „Experiment“ war denn auch das am meisten gebrauchte Wort auf der Konferenz in Gütersloh. Ob es sich aber um ein Experiment zur Entwicklung neuer Formen der Demokratie handle, blieb umstritten. Zum unverhohlenen Entsetzen des Vertreters der Bundesregierung gab McLaughlin zu Protokoll, natürlich sei ICANN selbst keine demokratische Organisation.

Wie sollte sie? ICANN war von der amerikanischen Regierung gegründet worden, um Grundfunktionen des Internets dem Zugriff anderer Regierungen oder der ungeliebten UNO zu entziehen. Dazu gehört unter anderem die Aufsicht über die Domain-Namen, die heute zur heiß umstrittenen Mangelware geworden sind. Ein „White Paper“ der Regierung Clinton machte 1997 allen Bemühungen, die Verwaltung der Internetadressen einer klassischen transnationalen Behörde (etwa der ITU) zu unterstellen, ein jähes Ende. Das Papier stellt fest, dass die weitere Entwicklung eines weltweiten Informationssystems einerseits im strategischen Interesse der Vereinigten Staaten liege, andererseits aber eines neuen, der Struktur des Netzes angemessenen Lenkung bedürfe.

Das Volk wirdimmer noch gesucht

Das Ergebnis ist ICANN. Kritiker in den USA selbst wiesen von Anfang an auf den offenkundigen Mangel der Konstruktion hin: Es fehlt ihr an der Legitimation, die selbst dann erforderlich wäre, wenn das Gremium tatsächlich rein technische Aufgaben wahrnähme. Einiges spricht vielmehr dafür, das System der globalen Internetadressen als öffentliches Gut der Weltgemeinschaft zu betrachten, das keinesfalls per Handstreich der Kontrolle eines einzigen Staates unterstellt werden dürfte.

Der Ausweg des „White Paper“ ist eine Flucht nach vorn in das politisches Neuland einer globalen Mitbestimmung „von unten“, die der deutsche Politologe Claus Leggewie schlicht „atemraubend“ findet. Dass aber die Fakten weniger atemberaubend sind, ist einer der Gründe, warum die Bertelsmann-Stiftung zur Konferenz rief. Sie hat sich zur Vorsprecherin für ICANN in Deutschland gemacht. Seit Mai wirbt auch der Spiegel Online unter der Parole „I can!“ für die Teilnahme an den Internetwahlen. Der Erfolg lässt sich leider derart präzise nachweisen, dass der Brite Christopher Wilkinson als Vertreter der EU nur einen „Flop“ erkennen kann. Ende Mai waren genau 16.919 Anmeldungen eingegangen. 6.915 kamen aus den USA, 6.775 aus Europa, davon 4.107 aus Deutschland. Die Avantgarde kann stolz sein auf ihren absoluten Minderheitenstatus. Vorsichtige Schätzungen kommen auf etwa 300 Millionen Internetnutzer weltweit.

Mit weiterer Propaganda ließe sich das Missverhältnis vielleicht beheben, so lange will die ICANN aber nicht warten. Vom 13. bis 17. Juli versammelt sich das Gremium in Yokohama, Japan. Auf der Tagesordnung steht an erster Stelle die Frage, ob neue so genannte Top-Level-Domains über die heute bekannten Adressenendungen „.com“, „.org“ und „.net“ hinaus eingeführt werden sollen. Das Problem ist seit Jahren umstritten und soll nun noch vor Ende des Jahres einer Lösung zugeführt werden. Falls es dazu kommt, ist eine der offensichtlichsten und folgenreichsten Entscheidungen der ICANN bereits getroffen, bevor auch nur einer der Wahldirektoren seine Arbeit aufnehemen konnte. Damit nämlich ist frühestens im nächsten Frühjahr zu rechnen. Die ersten fünf Volksvertreter haben dann vor allem zu beweisen, dass sie den vorgegebenen Aufgaben der ICANN keinen Schaden zufügen.

Erst nach einer Probezeit von sechs Monaten will ICANN zum zweiten Teil der Internetwahl aufrufen, mit der dann die verbliebenen vier Direktorenposten besetzt werden sollen. In dieser Testphase behält sich die Direktoriumsmehrheit vor, das Wahlverfahren erneut abzuändern. Die „gewisse Spannung“ nämlich, die zwischen der Forderung nach „sachlicher Qualifikation“ und der Wahlfreiheit eines souveränen Volkes bestehe, sei nun mal „unvermeidlich“, meint Andrew McLaughlin, der Chefpolitiker bei ICANN.

niklaus@taz.de