DIE ÄRA KOHL IST IN DER CDU AUCH BEI DER EINWANDERUNGSPOLITIK VORBEI
: Abschied von der Lebenslüge

Es ist, als wollte die neue Garde der Union im Eilschritt nachholen, was man in der Vergangenheit verdrängt hat. Plötzlich wird Einwanderung nicht mehr verteufelt, sondern geradezu herbeigesehnt. Als Stärkung für die Volkswirtschaft, als Verjüngungskur für eine alternde Gesellschaft. Man mag darüber spötteln, dass die Union ein Thema forciert, für das in der Kohl-Ära ein Denk- und Sprechverbot herrschte. Doch muss man sich vergegenwärtigen, welch einen Umschwung die neue Unionsführung ihrer Klientel da zumutet.

Die Lebenslüge der Kohl-Ära war: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Erst eineinhalb Jahre ist es her, da gewann Roland Koch die Wahlen in Hessen mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Doch ist die Ära Kohl nicht nur wegen der Parteispendenaffäre vorbei. Die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung hat sich seither gründlich gewandelt. Selbst Bild feiert inzwischen den Computer-Inder.

Dabei war das Bild, das die Union bis vor kurzem von sich zeichnete, nie mit ihrer real betriebenen Ausländerpolitik deckungsgleich. Anders als der Öffentlichkeit verkauft, war die Union die eigentliche Einwanderungspartei dieser Republik. Ein Blick auf die Zahlen zeigt dies überdeutlich. Unter der Regierung Kohl stieg der Anteil der Ausländer fast um das Doppelte: von 4 Millionen im Jahr 1985 auf 7,3 Millionen im Jahr 1998.

Den Vordenkern in der Union war schon lange bewusst, dass sich ihre Partei aus der Welt manövrierte, wenn sie an den überholten Positionen festhalten sollte. Jetzt hilft ihnen ein Bedrohungsszenario, das auch den uneinsichtigsten Konservativen nicht unbeeindruckt lässt: Ohne ausländische Fachkräfte keine Weltspitze mehr! So sind Nationalismus und Globalismus plötzlich keine Gegensätze mehr für die Union, stattdessen wird hastig versucht, daraus ein Yin und Yang der Politik zu konstruieren.

Diese Debatte zu beginnen ist aus Sicht der Union dringend notwendig. Würde sie sich noch länger der Diskussion entziehen, wäre das Ansehen der CDU bei der Wirtschaft äußerst gefährdet, die sich mit der Green Card sowieso bestens bei Schröder aufgehoben fühlt. Zudem würde die Union mit der ungeklärten Einwanderungsfrage ein Thema in den Wahlkampf 2002 mitschleppen, das wie kaum ein anderes Ängste und Befürchtungen auslöst. Daher ist die Strategie von Fraktionschef Friedrich Merz (und Parteichefin Angela Merkel) verständlich. Es braucht Zeit, Lebenslügen zu zerstören. Also fängt man besser rechtzeitig an.

SEVERIN WEILAND