Der falsche Antragsteller

Er will, dass Havelberg seine Vergangenheit nicht vergisst. Plötzlich erscheint wichtig, was Gerhard Imig vergessen hatte: Er kommt aus dem Westen

von NICOLE MASCHLER
und ANJA MAIER

Es gibt diesen Satz, den hätte bis vor kurzem auch Gerhard Imig unterschrieben. „Es gibt keine sozialdemokratische Umgehungsstraße, sondern nur eine richtige oder falsche Trassenführung.“ In seiner Heimatstadt Havelberg, erzählt der Christdemokrat, war es – nach der Wende – beinahe gleichgültig, ob ein Stadtrat der SPD, CDU, PDS oder den Unabhängigen angehörte. Beschlüsse fällte man gemeinsam. Eine Große Koalition, politisch und privat.

Mit dem Fraktionschef der SPD, Lothar Krater, feierte der Fraktionschef der CDU, also Imig, jahrelang Silvester, die Familien fuhren zusammen in Urlaub. „Wir haben immer versucht, Parteiquerelen rauszuhalten.“ Das ist nun anders. Imig, klein, mit raspelkurzem Haar und flinken Augen hinter der rahmenlosen Brille, sinniert. „Die Sache mit dem Antrag hat uns entzweit. Warum, weiß eigentlich keiner so recht.“

Die Sache mit dem Antrag: Am 10. April hatte Imig seinen Kollegen im Rat einen Beschlusstext vorgelegt. Der bestand lediglich aus einer Zeile: „Der Stadtrat beschließt die Beteiligung der Stadt Havelberg am Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter.“ Darunter: Mündliche Ausführungen vorbehalten.

Es geht nicht um Geld

Dazu kam es erst gar nicht. Nicht einmal die anderen Fraktionschefs, die Imig regelmäßig zum Brainstorming beim Bürgermeister trifft, hatte er eingeweiht. Ihm war gar nicht der Gedanke gekommen, dass diese den Vorschlag ablehnen könnten. Umso mehr verblüffte ihn, dass sein Freund Lothar Krater wortlos den Raum verließ. Und der parteilose Bürgermeister, zwischen allen Fronten, enthielt sich der Stimme. Nur die beiden PDS-Politiker sagten, was sie von dem Antrag hielten: „Das Geld sollte von denen kommen, die von der Ausbeutung profitiert haben.“ Also von den Wirtschaftsunternehmen. Nicht von den Havelbergern.

Dabei, sagt Imig, sei es ihm gar nicht ums Geld gegangen. Sondern um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Imig streicht mit der Hand über das sorgfältig abgeheftete Schriftstück. An eine Dokumentation habe er gedacht, wie sie der Deutsche Städtetag im Februar angeregt hatte. Wenngleich das in dem Antrag so nicht stand – von der Initiative ist Gerhard Imig noch immer überzeugt: „Niemand kann sich von seiner Geschichte verabschieden.“

Auch Lothar Krater geht es nicht ums Geld. Ihm geht es ums Prinzip. „Ich kann mich nur für mich selbst bekennen, nicht für die Stadt.“ Wortklauberei? Der SPD-Fraktionschef, ein stabiler Mittvierziger, schüttelt den Kopf. Für ihn habe ein Ratsbeschluss etwas von einem Schuldeingeständnis. Und Schuld? „Ich lehne die Verantwortung für die Vergangenheit ab.“

Havelberg, einst Bischofssitz in der Prignitz, hält sonst viel auf seine Geschichte. Denn die ist das Pfund, mit dem das 7.000-Einwohner-Städtchen wuchern kann: Der Sankt-Marien-Dom von 948, die Stadtkirche aus dem Jahre 1340. Selbst Zar Peter der Große traf sich hier mit Friedrich Wilhelm I.

Die Zwangsarbeiter, die seit Kriegsausbruch wie überall im Dritten Reich eingesetzt waren, tauchen in keiner Chronik auf. Billige Kräfte, die Post ausgetragen, Straßen ausgebessert, auf dem nahe gelegenen Gut Müggenbusch geackert, in der Werft geschuftet haben.

Die Entschädigung ist Sache der Länder, hat der Städtetag im Dezember klargestellt. Von Selbstverwaltung könnte im Dritten Reich keine Rede sein, die Kommunen treffe somit keine Schuld am Zwangssystem.

Es geht um Scham

Dabei will Gerhard Imig gar nicht von Schuld sprechen, sondern von „Scham“. Als Leiter des Arbeitsamtes im benachbarten Perleberg bekommt er jeden Monat zwei bis drei Briefe von ehemaligen Zwangsarbeitern. Polen, die um Beschäftigungsnachweise für die Rentenkasse bitten. Das Schicksal dieser Menschen habe ihn berührt, sagt Imig. Da müsse man etwas tun.

So wie damals, 1990. Für Gerhard Imig war der Aufbau Ost eine Art persönlicher Herausforderung. Gleich nach der Wende ließ sich der heute 56-Jährige von Hannover nach Perleberg versetzen. Sein Amt, ein Klinkerneubau, wirkt beinahe einladend. Die Aufgänge sind hell gestrichen, Pastellfarben auch auf den Fluren. Von Arbeitsamt-Tristesse keine Spur. Die lauert zwischen den Aktendeckeln.

17 Millionen Mark wurden seit der Wende in die Sanierung von Havelberg gesteckt. Ein neues Wassersportzentrum sollte Touristen anlocken. Statt dass Touristen kamen, gingen immer mehr Einheimische. Das Zellstoffwerk Wittenberge musste Leute entlassen, die Maschinenfabrik, die Polsterfirma und die Nähmaschinenfabrik Veritas auch. Die Arbeitslosigkeit: 20 Prozent.

Gerhard Imig ist keiner, der lamentiert. „Der redet sich vom Strick, wenn’s sein muss“, hatte Lothar Krater über ihn gesagt. Imig ist nicht nur CDU-Fraktionschef, sondern auch Parteivorsitzender, Rotarier und im Gemeindekirchenrat. Einer, der auf die Leute zugeht. Der seine Vorstellungen und Ideen kundtut. So wie im April: Idee und, hopp, Antrag.

Er ahnte nicht, dass die Leute es ihm dieses Mal übel nehmen könnten. Ihm, dem Wessi. Denn anders kann Imig sich nicht erklären, warum die Havelberger auf den Streit im Rathaus mit eisigem Schweigen reagierten. Keine Briefe, keine Anrufe. Trotz des ausführlichen Berichts in der Havelberger Volksstimme.

Mit dem Gerede von Ost und West konnte Imig nie viel anfangen. Doch nun ... wenn er Ost-Biographien akzeptieren solle, „dann gilt das doch auch umgekehrt.“ Die Stadt, sagt Imig, drifte wohl wieder „in Richtung DDR-Nischengesellschaft“.

Wenn Lothar Krater aus seinem Büro am Stadtrand schaut, dann blickt er auf einen Norma-Discounter. Wenig Geld, kein Job – Krater weiß, wie das ist. Wie Imig hat auch er es mit Arbeitslosen zu tun. Doch er verwaltet nicht. Die Akademie, für die er arbeitet, bietet Schulungen für Langzeitarbeitslose an. Da hat Krater Erfahrung, schließlich verlor er nach der Wende selbst seinen Job als Werftarbeiter.

Damals übernahm Krater den Stasi-Untersuchungsausschuss. Havelberg, Garnisonsstadt seit dem 17. Jahrhundert, war zu DDR-Zeiten Standort der Nationalen Volksarmee. Vier Jahre lang wälzte Krater Akten, verhörte Kollegen, Nachbarn. Und machte sich Feinde. Unbekannte bespritzten sein Auto mit Farbe, er erhielt anonyme Anrufe, seine Kinder wurden auf dem Schulweg bedroht. Den Vorsitz im Ausschuss hatte er nur deshalb übernommen, weil er schon vor dem Mauerfall in der Bürgerbewegung aktiv gewesen war. „Einer musste es ja machen.“ Als ihn Imig in der Ratssitzung ermahnte, sich nicht aus der Geschichte zu verabschieden, hat ihn die Wut gepackt. „Ich muss mich von keinem belehren lassen.“

Seine Eltern, erzählt Krater, seien in den letzten Kriegsmonaten aus Ostpreußen geflohen, auf der „Wilhelm Gustloff“, im Januar 1945. Als sowjetische U-Boote das Lazarettschiff bombardierten, ging es mit mehreren tausend Menschen an Bord unter. Seine Eltern überlebten. Seine Mutter, sagt Krater, ist heute 79. Ihre Kriegserlebnisse sind selbst nach 55 Jahren noch jung. Er hätte auch sagen können, jeder müsse seine Vergangenheit selbst ertragen: Kraters Mutter, Havelbergs Zwangsarbeiter.

Vielleicht ist Krater aber auch einfach die ewigen Bekenntnisse leid. In der DDR, erinnert er sich, musste er sich bei jeder Gelegenheit zum Antifaschismus bekennen. In der Schule, bei öffentlichen Feiern, im Betrieb. „Und nach der Wende musste ich mich dann dazu bekennen, dass wir in der DDR ein Volk von 16 Millionen Spitzeln waren.“ Zynisch soll das klingen. Es klingt traurig.

Verantwortung für die Zukunft

Dann sagt Krater: „Als Stadtrat muss ich Verantwortung übernehmen.“ Für die Zukunft der Stadt, wohlgemerkt. Statt an Vergangenes zu rühren, findet Krater, sollte sich der Rat lieber um drängende Probleme kümmern.

Gerhard Imig hat seinen Antrag umformuliert. Hat erläutert, wie er sich das mit der ABM-Kraft und der Dokumentation vorstellt. In Magdeburg, davon hat er gehört, gibt es ein ähnliches Projekt. Doch eine Antwort bekam er auch dieses Mal nicht. Immerhin durchforstet die Archivarin nun auf Anweisung des Bürgermeisters alte Unterlagen, um mehr über die Zwangsarbeiter der Stadt zu erfahren.

Die Ratskollegen forderten Imig lediglich auf, einen Finanzierungsplan für die ABM-Stelle vorzulegen. Der Vorschlag, die Dokumentation von Schülern des Gymnasiums erarbeiten zu lassen, wurde von den Lehrern abgelehnt. Das bedeute bloß Unterrichtsausfall. Die Entscheidung über den Antrag hat der Stadtrat vertagt, auf unbestimmte Zeit.

Das Wort „Verschleppungstaktik“ nimmt Gerhard Imig nicht in den Mund. „Wir müssen gucken, wie wir es hinkriegen – ohne dass jemand das Gesicht verliert“, sagt er.

Gerhard Imig hat gelernt. Dass Kommunalpolitik nicht immer Sacharbeit ist. Und noch eines: „Ich war wohl der falsche Antragsteller.“

Mit Lothar Krater hat er noch nicht darüber gesprochen.