„Die Aufgabe Atomausstieg liegt noch vor uns“

Rebecca Harms, Fraktionsvorsitzende der Grünen im niedersächsischen Landtag, über die Konsensvereinbarung der Bundesregierung

taz: Warum empfehlen Sie dem Parteitag die Ablehnung der Konsensvereinbarung, wo doch der Atomausstieg eines Ihrer Hauptanliegen ist?

Rebecca Harms: Die Vereinbarung ist in weiten Teilen sehr enttäuschend. Ihr gavierendster Mangel ist für Niedersachsen die erneute Vertagung des Entsorgungsproblems. Bei Amtsantritt wollte die Bundesregierung die Entsorgung des Atommülls noch grundlegend neu ordnen. Dieses Vorhaben soll jetzt verschoben, wenn nicht sogar fallen gelassen werden. Da gibt es für die Erkundung des Endlagers Gorleben zwar ein Moratorium. Eine ergebnisoffene, vergleichende Untersuchung verschiedener Endlagerstandorte ist aber nicht vorgesehen. Damit verliert das Moratorium seinen Sinn. Es sollte ja gerade Gelegenheit geben, die politisch motivierten Entscheidungen für die Endlager Gorleben und Konrad auf den Prüfstand fachlich begründeter, wissenschaftlicher Endlagerkriterien zu stellen.

Der Umweltminister sagt aber, die von der Bundesregierung dafür eingesetzte Kommission werde weiter die Kriterien für das eine geplante Endlager entwickeln und anschließend „gegebenenfalls“ (Jürgen Trittin) auch andere Endlagerstandorte untersuchen.

Es ist richtig und in Deutschland seit Jahrzehnten überfällig, wissenschaftlich begründete Anforderungen an einen Endlagerstandort festzulegen. Aber genauso unverzichtbar ist eine vergleichende Standortuntersuchung. Solange man an den willkürlich gewählten Standorten Gorleben und Konrad festhält, werden doch die neuen Kriterien gar nicht angewendet.

Auch der Bundesumweltminister hält aber eine vergleichende Standortuntersuchung weiter für möglich ...

In ihrer Koalitionsvereinbarung hatten sich SPD und Grüne auf Bundesebene bereits vor 20 Monaten auf eine vergleichende Standortuntersuchung festgelegt. Von dieser Festlegung findet sich in der Konsensvereinbarung nichts, obwohl die Endlagerung Sache des Bundes ist und er Kriterien und Standorte für die Endlagerung von Atommüll eigenverantwortlich festlegen kann. Vor der Bundestagswahl werden nun diese unbedingt notwendigen Untersuchungen nicht mehr eingeleitet werden. Damit sitzt man weiter in der alten Atommüll-Sackgasse fest. Nicht umsonst hieß es doch in der Koalitionsvereinbarung, dass das Entsorgungskonzept der Vorgängerregierung gescheitert sei.

Die Vereinbarung spricht aber von Zweifel an der Eignung von Gorleben.

Da werden zumindest alle Zweifel an der geologischen Eignung von Gorleben beiseite geschoben. In der einseitigen Erklärung des Bundes, die Bestandteil des Vertrags ist, legt sich die rot-grüne Regierung auf die Eignungshöffigkeit, also auf eine begründete Aussicht auf Eignung des Salzsstockes, fest. Genau das ist völlig unakzeptabel. Alle fragen sich, wozu noch ein drei- bis zehnjähriges Moratorium, wenn die Eignungshöffigkeit so eindeutig bejaht wird? In den Konsensrunden seit 1993 war unumstritten, dass erst 2030 ein Endlager gebraucht wird. In drei bis zehn Jahren lässt sich eine vergleichende Standortsuche und Erkundung nicht durchführen. Die AKW-Gegner innerhalb und außerhalb der Grünen befürchten deshalb die Zementierung von Gorleben.

Eine Ablehnung der Vereinbarung würde aber die rot-grüne Koalition im Bund möglicherweise beenden.

Das ist ein Totschlagargument. Es ist nicht das erste Mal, dass aus Gründen der Koalitionsräson der Partei eine Zustimmung abverlangt wird. Erst wird die Partei nicht beteiligt, dann wird unter dem Motto „Friss, Vogel, oder stirb!“ die Koalitionsfrage gestellt. Das ist die Krankheit des grünen Mitregierens. Jetzt soll die Partei die Vereinbarung als historischen Erfolg verkaufen, obwohl in den Verhandlungen kaum etwas herausgeholt wurde. Dieser Kompromiss, der wahrscheinlich auf dem Parteitag eine Mehrheit finden wird, ist allenfalls eine Zäsur. Eine nüchterne Bewertung des Erreichten und Nicht-Erreichten würde den Grünen besser anstehen. Die Aufgabe Atomausstieg liegt noch vor uns. INTERVIEW: JÜRGEN VOGES

Am 17. Juni veröffentlichten wir einen Text zum Atomausstieg von Rebecca Harms („Böses Blut“). Er findet sich in aktualisierter Form unter: http:// archiv.hal.taz.de/taz/nf/etc/harmstext.html