Der Fluch guten Wollens

Kein Urlaub für vierzehn Hamburger Abgeordnete vom Parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Klären müssen sie, was dran ist am Vorwurf, Hamburg und Sozialdemokratie seien miteinander verfilzt. Bis November müssen sie ihren Abschlussbericht vorlegen. Eine Bilanz

von ALEXANDER HEINZ

Der Vorsitzende wirkt erschöpft an diesem Abend der vorerst letzten Zeugenvernehmung am 31. März. Mit hängenden Schultern und leicht gebeugtem Gang bewegt sich Günter Frank etwas schleppend durch den hell getäftelten Sitzungssaal. Wie ein graues Make-up liegt die Müdigkeit auf seinem Gesicht. Er klagt: „Was dieser Untersuchungsausschuss leistet, weiß doch niemand.“ Und irgendwie zweifelt der Sozialdemokrat auch daran, dass irgendjemand den auf zweitausend Seiten geschätzten Untersuchungsbericht je lesen wird.

Müde ist auch die Christdemokratin Antje Blumenthal an diesem Abend: Doch ihr kann das nichts anhaben. Wenn sie in der Sitzungspause mit gesenkter Stimme ein Fazit der zweijährigen Ausschussarbeit zieht, breitet sich ein wissendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Es zeigt die unbescheidene Genugtuung einer Rechthaberin, die sich wieder mal bestätigt sieht: Hat sie nicht jahrelang den Senat mit kleinen Anfragen bombardiert, die stets mit ausweichenden Antworten abgespeist wurden?

Worum es diesem Parlamentarischen Untersuchungssausschuss (PUA) „zur Vergabe und Kontrolle von Aufträgen und Zuwendungen durch die Freie und Hansestadt Hamburg“ geht, hat sich im Volksmund schnell herumgesprochen: „Untersuchungsausschuss Filz“ heißt es knapp. Und der Filz wird in der Hamburger Sozialbehörde gesucht. Diese Behörde dient dabei als Modell für die Verhältnisse in der ganzen Stadt, wo jeder jeden kennt und fast alle wichtigen Positionen in den Schaltstellen der Behörden und Geschäftsführerjobs in staatlichen Unternehmen fest in den Händen von verdienten Sozialdemokraten zu finden sind.

Die SPD-Kreise, die den städtischen Bezirken entsprechen, bilden eine eigene politische Landkarte, auf der sich die Parteilager in etwa die Waage halten. Alle wichtigen Ämter werden dem Kräfteverhältnis gemäß nach einem strikten Proporzverfahren verteilt: Stammt der Bürgermeister aus dem linken Parteikreis Nord, wird einer aus Mitte (eher rechts) Fraktionsvorsitzender.

Die Hamburger Sozialbehörde galt in diesem Zusammenhang lange – rein parteigeografisch – als Heimat und Machtbasis der SPD-Nord. Drei Senatoren in Folge kamen aus diesem Kreis, und auch im unmittelbaren Einflussbereich der Behörde, beim größten ABM-Projekt der Stadt, der Beschäftigungsgesellschaft „Hamburger Arbeit“, stammten die Geschäftsführer ebenfalls aus diesem Kreis.

In dem US-Thriller „City Hall“ geht es um Filzvorwürfe in einer großen Stadt. Hauptdarsteller Al Pacino definiert dort Filz so: „Menschenleben, das sind nicht nur die Backsteine einer Mauer. Entscheidend ist der Mörtel, der dazwischenliegt.“ Und dieser Mörtel sei nicht schwarz oder weiß, sondern grau. In einem Graubereich bewegt sich auch das, was die örtliche CDU seit Jahren als „Hamburger Filz“ bei der Sozialbehörde angeklagt hat: Subventionsbetrug bei einem Träger, rechtlich fragwürdige Rücklagen bei einem anderen, Interessenkollisionen, weil das Personal zwischen Zuwendungsempfängern draußen und Entscheidungsträgern in der Behörde teilweise identisch war. Mit dem PUA sah die CDU ihre Chance, die seit Kriegsende fast ungebrochene SPD-Herrschaft in der Stadt anzuprangern.

Bei dieser letzten Zeugenvernehmung des Untersuchungsausschusses sind nur wenige Journalisten übrig geblieben. Keine Aufregung wie am Anfang vor zwei Jahren. Sozialdemokrat Frank will auch jetzt von „Filz“ nicht sprechen; schon das Wort in den Mund zu nehmen bereitet dem Berufsschullehrer Unbehagen. Als gelte es, einen begabten, aber faulen Schüler zu tadeln, spiegelt sich dann in seinem Gesicht eine Mischung aus Ungeduld und Nachsicht: „Fehlerhaftes Verwaltungshandeln“, das gab es schon. Mehr aber nicht.

Und irgendwie können beide Seiten mit Recht argumentieren: Weil die Ausschuss sich so lange mit der Hamburger Sozialbehörde beschäftigt hat, hat er auch Filz gefunden. Doch jeder Sachverhalt lässt sich so weit verästeln, dass man am Ende durchaus sagen kann: Bewiesen ist gar nichts. Ein Graubereich zwischen Mauersteinen eben, wo sich über den Mörtel trefflich streiten lässt.

Filz ist ein festes Gewebe, das dazu noch den Schall dämpft. Als lautlos wird auch häufig die Regierungskunst von Bürgermeister Ortwin Runde beschrieben: keine großen Visionen, aber die Verwaltung funktioniert wie ein Räderwerk. Was für ein Albtraum muss für Runde die Einrichtung dieses Untersuchungssausschusses gewesen sein: Denn der heutige Bürgermeister diente der Stadt von 1988 bis 1993 als Sozial- und Gesundheitssenator. Mit dem Hamburger Untersuchungsausschuss, der sich mit der Sozialverwaltung seit 1990 beschäftigt, wurde demnach auch seine eigene Amtsführung dem Blick der Öffentlichkeit preisgegeben. Und anders als in Nordrhein-Westfalen ging es dabei nicht nur um ein paar Flugreisen, deren dienstlicher Charakter umstritten ist. Vom System Rau ist oft gesprochen worden. Niemand aber wird behaupten, dass der dort arbeitende Untersuchungsausschuss ein solches Machtsystem im Blick hatte.

Ein System Runde: Gab es das? Die Frau, der er zu verdanken hat, dass diese Frage nun gestellt wird, heißt Helgrit Fischer-Menzel. Auch sie stammt aus dem SPD-Kreis Nord, war dort von 1982 bis 1991 Vorsitzende. Auch sie war Sozialsenatorin, Nachfolgerin Ortwin Rundes. Bis zum 1. März 1998. Da trat sie zurück. Und gab damit Anlass, diesen PUA einzurichten, der nicht nur die Affäre, die ihren Rücktritt auslöste, prüfte, sondern viel mehr: nämlich den gesamten Bereich der Vergabe von Zuwendungen der Sozialbehörde.

Allein das Volumen der Zahlungen an freie und staatliche Träger durch diese Behörde beträgt rund dreihundert Millionen Mark im Jahr. Helgrit Fischer-Menzel strotzte noch immer vor Selbstbewusstsein, als sie an jenem ersten Märztag vor zwei Jahren auf ihr Amt verzichtete. Mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes, das sein schönstes Spielzeug zerstört hat, um es den Eltern richtig zu zeigen, umringt von Kameras und Mikrofonen, las sie bittere Worte vom Blatt ab: „Die babylonische Sprachverwirrung in ehrabschneidender Absicht ist der Grund, warum ich jetzt meinen Rücktritt erkläre.“ Von Unrechtsbewusstsein keine Spur.

Was war geschehen? Die Senatorin hatte sich in ein Vergabeverfahren eingemischt, bei dem sich drei Träger um eine Vorsorgeeinrichtung für Alkoholkranke beworben hatten. Ihre Behörde entschied sich für das „Guttempler-Hilfswerk“. Fischer-Menzel intervenierte schriftlich („So nicht!“), und nach monatelangem Hin und Her erhielt ein anderer Träger den Zuschlag.

Doch weil der Geschäftsführer des erfolgreichen Bewerbers, der „Alida-Schmidt-Stiftung“, Peter Fischer hieß, musste Helgrit Fischer-M. ihren Hut nehmen. Denn es handelte sich bei Herrn Fischer um ihren Ehemannn. Der Filzvorwurf („hanseatisches Ehegattensplitting“) schaffte Helgrit Fischer-Menzel. Gründe für einen Rücktritt hätte es indes schon vorher genug gegeben: Doch sie dankte nicht ab, nachdem sie den Cheftropenarzt Manfred Dietrich wegen vermeintlicher Behandlungsfehler erst suspendiert hatte, um ihn dann nach einer Reihe blamabler Gerichtsniederlagen wieder in sein Amt lassen zu müssen. Unbehelligt blieb sie auch, als sie mit der Schließung des traditionsreichen Hafenkrankenhauses einen politischen Flop gelandet hatte.

Die Diplomsoziologin trat zurück, weil die Öffentlichkeit – und mehr noch die eigene Partei – wohl manche politische Fehlleistung verzieh, nicht aber den Vorwurf des Filzes und der Familienpatronage. Auch als Senatorin a. D. beharrte Fischer-Menzel darauf, keinen Fehler gemacht zu haben. Erst anderthalb Jahre später und nach mehrfacher Vernehmung räumte sie ein, das Problem der Interessenkollision unterschätzt zu haben. Vorher argumentierte sie, es wäre diskriminierend gewesen, Peter Fischer aus dem Vergabeverfahren auszuschließen, nur weil er ihr Gatte sei.

Wenn der SPD-Ausschussvorsitzende heute ein Resümee der zweijährigen Untersuchung zieht, klingt das ähnlich. So als habe er gerade das Gen einer besonderen Krankheit entschlüsselt, verkündet Günter Frank dann vergleichsweise schlichte Wahrheiten: „Ich finde, ein Parteibuch darf nicht privilegieren und nicht diskriminieren.“ Wobei Letzteres von sozialdemokratischen Parteibüchern auch niemand behauptet.

Eine steile Karriere hat der Ausschuss ganz besonders im Blick gehabt: Die von Uwe Riez, zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter der SPD-Bürgerschaftsfraktion, dann Oberregierungsrat in der Schul- und Jugendbehörde und schließlich, nach einen Anruf von Sozialsenator und HAB-Aufsichtsratschef Runde, Geschäftsführer der „Hamburger Arbeit“ (HAB). In dieser Funktion stritt sich Riez über vier Jahre um die Höhe und die Verwendungszwecke der Behördenzuwendungen und wurde dafür noch belohnt. Er wechselte in die gut dotierte Position eines Senatsdirektors in der Sozialbehörde, wurde Amtsleiter (dritthöchster Posten in der Behörde) und bald auch zuständig für den Bereich der Arbeitsmarktpolitik und die „Hamburger Arbeit“, jenen Betrieb, den er zuvor selbst geführt hatte.

Weil der Streit um die Zuwendungen und insbesondere um die Bildung von Rücklagen bei der „Hamburger Arbeit“ immer noch nicht ausgeräumt war, erklärte er das alles nach Aussage eines Mitarbeiters zur „Chefsache“. Ein Sammelzuwendungsbescheid für fünf Jahre rückwirkend (260 Millionen Mark), unter seiner Verantwortung und auf sein Bestreben hin gefertigt, räumte alle Streitigkeiten der Vergangenheit aus, die Riez als Geschäftsführer selbst verantwortet hatte. Nebenbei brachte er der „Hamburger Arbeit“ ein paar Millionen mehr ein als zuvor für sie als Bedarf veranschlagt worden war.

Riez versuchte vor dem Ausschuss, seine Rolle als Amtsleiter bei der Fertigung des umstrittenen Sammelzuwendungsbescheides herunterzuspielen. Doch sein schneller Aufstieg (auch er aus dem SPD-Kreis Nord) ist für die Union eine typische Filzkarriere: Wenn einen der Sozialsenator anrufe, ob man den Job als Geschäftsführer haben wolle, dann sei das Filz, sagt CDU-Frau Blumenthal. In der Wirtschaft gebe es bei so etwas Stellenausschreibungen. Die GAL-Abgeordnete Dorothee Freudenberg sieht den kometenhaten Aufstieg des Uwe Riez als Ergebnis der langen SPD-Herrschaft in der Stadt. Strukturen, die auf Bekanntschaften beruhen: „Wenn es etwas zu tun gibt, dann kennt man halt einen, der das macht.“

Adenauer erläuterte dieses Prinzip am Beispiel des „Kölner Klüngels“ so: „Man kennt sich, man hilft sich.“ Die SPD will allerdings im Fall Riez keinen Klüngel gelten lassen: „Riez ist der beste gewesen“, sagt Mathematiklehrer Günter Frank ganz so, als handele es sich um ein Axiom. „Mich hat noch kein Senator angerufen, um mir eine Stelle anzubieten“, sagt hingegen die Finanzbeamtin Antje Blumenthal, die allerdings Mitglied der Union ist.

Doch dem Grundproblem des PUA konnte auch die rührige Abgeordnete nicht abhelfen: Ein Kronzeuge fand sich nicht. Niemand packte aus, um Verschwörungstheorien zu fundieren. Das Tableau von Personen ist zwar wie im Fall Riez und auch in anderen Fällen sichtbar: Doch wie es genau funktioniert hat, kann bis auf wenige Ausnahmen keiner sagen.

Und womöglich sind Parteibuchkarrieren, Bevorteilung bestimmter Träger, unerlaubte Rücklagen und inkonsequente Kontrollen von verwendeten Geldern gar nicht Teil eines konspirativen Masterplanes? Vielleicht geschah alles aus gutem Willen? So zumindest machen die SPD-Vertreter im Ausschuss glauben. Die Sozialdemokraten in dem Hamburger Untersuchungsausschuss taten sich in den zwei Jahren der Befragung wahrlich nicht als investigative Interviewer hervor. Stumm vor Entsetzen oder vor Langeweile (das war den stoischen Mienen nicht immer zu entnehmen) lauschten sie dem Vorsitzenden Frank, der mit monotoner Stimme den Fragenkatalog vom Blatt ablas.

Wenn die Sozialdemokraten einmal doch Fragen stellten, dann häufig solche, die eben auf den guten Willen abzielten. Zum Beispiel, als es um die Effizienz der behördeneigenen Prüfabteilung ging. Da wollte ein SPD-Mitglied im PUA von dem „Herrn Bürgermeister“ nur wissen: „Und wie wichtig war es Ihnen, dass Menschen in Arbeit gebracht worden sind, und wie viel?“

Ortwin Runde antwortete mit der eisigen Freundlichkeit eines Fürsten, den der stinkende Pöbel gerade vor ein Revolutionstribunal gestellt hat. Erst als die Fotografen den Saal verlassen hatten, setzte der Bürgermeister sich: bloß keine Bilder, die ihn wie einen Angeklagten aussehen lassen. Der Landesherr empfand es sichtlich als Zumutung – seine nervös wippenden Füße zeigten es –, dass ihn das Parlament mit kleinlichen Fragen zu seiner Zeit als Sozialsenator belästigte. Dankbar nahm Runde deshalb all jene Fragen auf, die vom eigentlichen Untersuchungsgegenstand ablenkten. Boten sie ihm doch die Chance, sein wichtigstes Ziel als Sozialsenator zu beschreiben: junge Menschen in Arbeit zu bringen.

Nichts als guter Wille auch bei der zurückgetretenen Senatorin Fischer-Menzel: Den Auftrag an die preisgünstigeren „Guttempler“ stoppte sie angeblich nur, um Arbeitsplätze in Hamburg zu erhalten. Guten Willen beteuerte auch der Sozialdemokrat Michael Pape. Er wurde wegen Subventionsbetrugs verurteilt; sein Beschäftigungsträger „Altonaer Jugendarbeit“ war der Prüfabteilung der Behörde lange vor der Verurteilung durch schwarze Konten und zweckentfremdete Gelder aufgefallen. Dennoch wartete die Behörde fast zwei Jahre, bis sie handelte. Die später zuständige Fischer-Menzel nutzte ihre Parteikontakte, um Pape zur Vernunft zu bringen, als die Vorwürfe gegen ihn immer lauter wurden. Die Senatorin telefonierte mit dem Kreisvorsitzenden aus Altona, Olaf Scholz (heute frisch gekürter Landesvorsitzender), denn Pape war in diesem Bezirk Fraktionschef.

Ungewöhnlich fand Fischer-Menzel ihre Intervention auf Parteiebene nicht. Muss man schließlich nicht alle Kontakte, die einem zur Verfügung stehen, nutzen, um einen wichtigen Beschäftigungsträger, der 250 Jugendliche in Lohn und Brot bringt, zu retten? Der frühere GAL- und heutige Abgeordnete der senatskritischen Regenbogengruppe, Norbert Hackbusch, sieht hier eine spezielle Eigenart der Verflechtungen in der Hamburger Sozialbehörde. Der Filz bestehe nämlich aus „lauter Leuten, die was Gutes machen wollten, und Leuten, die Leute kannten, die was Gutes machen wollten“. Jeder habe allerdings nur seinem kleinen Zirkel getraut. Im Grunde sei das alles eine Aristokratie gewesen: „Ein König, der sagt: Ich will doch nur Gutes für euch – und nicht verstehen kann, wenn die Menschen nach Demokratie verlangen.“

Und natürlich besteht der „gute Wille“ nicht nur darin, die Welt zu verbessern, sondern dabei auch noch die eigene Karriere zu fördern, wie im Falle des Bilderbuchgenossen Uwe Riez (durch seinen Aufstieg in die Behörde verdient er nun vierzigtausend Mark mehr im Jahr). Vielleicht ist es einfach so, dass sich als links und fortschrittlich verstehende Sozialdemokraten Machtstreben und Machtausübung nur in der Gewissheit, der „guten Sache“ zu dienen, vor sich und anderen vertreten können?

Der Fall Pape und die „Altonaer Jugendarbeit“ gerieten unter Rundes Ägide erstmals in die Schlagzeilen. Und während sich der Hamburger Bürgermeister noch sehr genau an seine arbeitsmarktpolitischen Erfolge erinnern konnte, blieb seine Rolle bei der Aufklärung der Vorwürfe gegen dieses Projekt im Dunkeln: „. . . ist mir nicht erinnerlich“ . . . „das war mir zu der Zeit nicht bekannt“ . . . „kann ich nicht erklären“. Noch heute ist die GAL-Abgeordnete und Psychiaterin Dorothee Freudenberg „platt“, wie wenig Runde über seine Verantwortung als Sozialsenator zu sagen wusste. Und der Abgeordnete Norbert Hackbusch fühlt sich an Helmut Kohl vor dem Flick-Untersuchungsausschuss der Achtzigerjahre erinnert. Der sei mit seinem Blackout schließlich gut gefahren.

In der Geschichte „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ von Heinrich Böll muss ein Rundfunkredakteur aus einem Vortrag das Wort „Gott“ herausschneiden und durch den Passus „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ ersetzen. Auch die Redenschreiber von Sozialsenatorin Karin Roth haben das Wort „Filz“ aus ihrer politischen Prosa verbannt. Viel wird dagegen von „Transparenz“, „Chancengleichheit“ und „Wettbewerb“ gesprochen, im Grunde also vom „Nichtfilz“, der nun in das Verwaltungshandeln Einzug finden soll.

Wie die Mauersteine durch den Mörtel zwischen ihen beschrieben werden, so befindet sich auch Hamburgs Sozialdemokratie in der schizophrenen Situation, die Existenz von Filz in der Hansestadt ständig abzustreiten, gleichzeitig aber für die Zukunft den Nichtfilz versprechen zu müssen.

Ironischerweise profitiert gerade die skandalträchtige Gesellschaft „Hamburger Arbeit“ nun am meisten von jener Transparenz, die für die Zukunft für den gesamten Zuwendungsbereich versprochen wird. Denn die millionenhohen und haushaltsrechtlich problematischen Rücklagen, die dieser Träger dank Protektion der Behördenspitze anhäufen konnte, verschaffen ihm einen Wettbewerbsvorteil, wenn es künftig als Konsequenz aus dem Filzausschuss verstärkt öffentliche Ausschreibungen auch im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geben wird.

In Bölls Satire schneidet der Redakteur die Pausen, die zwischen den Worten übrig bleiben, zusammen und spielt sie auf einem Tonbandgerät ab, um sich von dem Wortgetöse seines traurigen Arbeitsalltags zu erholen: Im Schweigen findet er den eigentlichen Kern seiner Arbeit wieder. Als ob er in dem läge, was nicht gesagt wird. Oder in dem, was zumindest nicht laut gesagt werden darf.

Eine sozialdemokratische Vertreterin im PUA vertraute sich eines Nachts einem Reporter in der U-Bahn an. Sie, die im Ausschuss nie einen Ton herausgebracht hatte, brachte ihr gesammeltes Schweigen auf den Punkt: „Nach mancher Vernehmung habe ich mich geschämt, Sozialdemokratin zu sein.“ Sagte es und fuhr still nach Hause.

ALEXANDER HEINZ, 33, Historiker, lebt in Hamburg und arbeitet als freier Mitarbeiter u.a. beim NDR. Schwerpunkt: Sozial- und Schulpolitik