„Unsere Götter werden wir nie aufgeben“

Ausländer in Berlin: Als Computerspezialisten stehen Inder hoch im Kurs. Doch die 4.000 Inder, die in Berlin leben, haben mit Informationstechnologie eher weniger zu tun. Sie haben als Ärzte oder Ingenieure oder Betriebswirte ihren Platz in der Gesellschaft gefunden, ohne ihre Herkunft zu leugnen

von JEANNETTE GODDAR

Nein, so wie Narendra Kumar Jain inmitten buddhistischer Gemälde vor dem vergilbten Foto seiner Eltern sitzt und seinen Tee schlürft, hat er nicht die geringste Ähnlichkeit mit den zurzeit so viel zitierten und imaginierten Computerexperten. Er ist auch keiner. Und dennoch wurde der aufstrebende Künstler und Sprössling eines indischen Rechtsanwalts und Unabhängigkeitskämpfers bereits im Jahre 1967 vom Deutschen Akademischen Austauschdienst nach Berlin eingeladen, um hier zu promovieren. Jain gab sein Leben als Dozent an der Universität von Agra zu Gunsten der Technischen Universität auf. Seine Promotion trägt den Titel „Indische Farbsymbolik“.

Längst hat sich Jain mit seinen Gemälden einen Namen gemacht: Regelmäßig steht er an der East Side Gallery und restauriert sein Werk „Die sieben Stufen der Erleuchtung“. Schon 1974 beteiligte er sich gemeinsam mit dem Aktionskünstler Ben Wargin an der „Aktion Weltbaum“. Seit 1975 kennt ihn auch das Internationale Kunst-Lexikon. Dennoch fällt es ihm manchmal schwer, die beiden Welten, in denen er lebt, zu vereinbaren – und zwar nicht die indische und deutsche, wie man meinen könnte, sondern die künstlerische und die spirituelle. „Für viele, die mich als Yogi sehen, verliere ich an Wert, wenn sie hören, dass ich auch Künstler bin, der Bilder verkauft und Ausstellungen organisiert“, erzählt er.

Denn die Hauptbeschäftigung Jains könnte indischer überhaupt nicht sein: Der 63jährige ist der einzige indische Yogi in Berlin. Sein Tag beginnt früh um vier mit einer zweistündigen Meditation und endet meist abends nach dem Unterricht in der Charlottenburger Yoga-Schule. Jain glaubt an Reinkarnation und Karma und daran, dass er sich durch seine Ausbildung zum Yogi zahlreiche Wiedergeburten auf dem Weg zur Vollkommenheit erspart hat. Über 30.000 Menschen lernten seit 1972 in Berlin Yoga bei dem gläubigen Inder. Außer Yoga stehen auf der Angebotsliste seiner Schule unter anderem „Grundbegriffe der indischen Philosophie“, „Astrologische Lebensberatung“ und „Ayurvedische Massage“.

Der Bekanntenkreis Jains setzt sich vor allem aus Deutschen zusammen. Dass das so ist, führt er auch darauf zurück, dass es der überwiegende Teil der Inder in Berlin zu „größerem materiellem Wohlstand“ gebracht habe, erzählt Jain. Seine ausschließliche Weiterentwicklung in spiritueller Hinsicht stoße auch bei manchen Indern auf Skepsis, sagt er. „Deutsche akzeptieren das eher, weil Spiritualität für sie untrennbar mit Indien verbunden ist.“ Glaubt man Jain, ist vielen Indern in Berlin ihr Wohlstand längst wichtiger als ihre Wurzeln. Andere jedoch würden genau das weit von sich weisen – und verweisen stattdessen auf die Vereinbarkeit von beidem.

Mit seiner Hinwendung zu Deutschen ist Jain jedoch eher die Ausnahme. Denn auch wenn die indische Community in Berlin im Vergleich zu denen aus der Türkei, Italien oder Ex-Jugoslawien fast winzig ist – laut der Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John sollen es etwa 4.000 sein – haben sie es weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit vollbracht, ihr indisches Leben in die Bundesrepublik zu übertragen.

Etwa 40 indische Vereine gibt es in Berlin. Das allerdings hat geradezu banale Gründe: „Wo zwei Inder sind“, spotten manche von ihnen über sich selber, „da gründen sie gleich drei Vereine.“ Das liegt auch daran, dass in Indien 18 offiziell anerkannte und 1.600 weitere Sprachen und Dialekte gesprochen werden und viele sich nur in Englisch oder auf Deutsch unterhalten können. An politischen Differenzen kann die hohe Vereinsdichte jedenfalls nicht liegen: Anders als beispielsweise die Tamilen aus dem benachbarten Sri Lanka sind Berliner Inder nur selten politisch aktiv. So sind auch die meisten ihrer Vereine in erster Linie Kulturvereine, es gibt einen Frauenverein, eine Tanzschule, einen Verein der Sikhs.

An jedem Freitag trifft sich ein Stück Indien am Ende eines langen Flures über der Abfertigungshalle des Flughafen Tempelhof. Zehn bis zwanzig Mitglieder des Vereins „Bharat Majlis Berlin e. V.“ kommen hier zusammen. In der Küche duftet es nach Chapati, Masala Dosa und Curry. Sandhiya Rani Sunder Raj, Vorsitzende des Vereins, steht hier höchstpersönlich am Herd. Zur Feier des Tages trägt sie einen leuchtend blauen Sari, an dem in Form einer Brosche ein goldener Elefant prangt, der in Indien auch den Gott Ganesch verkörpert. Sie habe sich an vieles gewöhnt in Deutschland, erzählt sie, „aber unsere Götter, die werden wir nie aufgeben, egal, wie lange wir hier leben“.

Glaubt man Frau Sunder Raj und ihrer Freundin Sushila Sharma-Haque gibt es keinen einzigen Hindu in Berlin, der sich nicht zu Hause einen kleinen Altar gebaut hat: mit Bildnissen von Vischnu, Ganesch, Schiva, Krischna oder anderen hinduistischen Göttern, von denen nicht einmal Hindus wissen, wie viele es eigentlich gibt. Hunderte, sagen manche, Millionen, mutmaßen andere. Abends werden an den Altären die Lämpchen angemacht, Räucherstäbchen werden angezündet. „Und an Feiertagen“ erzählt Frau Sunder Raj, „werden die Götter gebadet.“ Sonntags trifft man sich zur heiligen Feier mit Freunden – in Ermangelung der Großfamilie, die in Indien zurückgeblieben ist.

Frau Sunder Raj war ihrem Mann bereits beim Spielen auf der Straße in Bangalore versprochen worden und folgte ihm Anfang der 80er-Jahre nach Berlin. Nicht gegen ihren Willen, versichert sie, ihre und seine Eltern hätten sie durchaus gefragt, ob sie ihn denn heiraten wolle. Außerdem, erzählt Herr Sunder Raj, der im Ostteil der Stadt mit indischen Natursteinen handelt, habe viel für eine glückliche Ehe gesprochen: „Die Sterne sprachen dafür“, so der gelernte Energietechniker, „in Indien werden Leute nicht einfach so verheiratet. Es werden umfangreiche Gutachten von anerkannten Astrologen erstellt. Für Deutsche ist das sicher schwer zu verstehen.“

Mit am Tisch sitzt auch die zehnjährige Regenie Sunder Raj. Auch sie hat sich heute Abend in einen so genannten Shalwarkamis, eine Art Hosenanzug mit knielangem Hemd gehüllt. Sonst aber, erzählt sie, ist sie doch eher mit Jeans und T-Shirt unterwegs. Zwar besucht sie die englischsprachige John-F.-Kennedy-Schule, dennoch habe sie vor allem Kontakt zu deutschen oder jedenfalls nicht zu indischen Kindern. Auch sonst hat man nicht den Eindruck, als setze sich in der zweiten Generation der enge Zusammenhalt ihrer Eltern fort. Von ihren Kindern berichten viele, sie studierten in Westdeutschland, gingen zur Bundeswehr oder seien mit Deutschen verheiratet – das ist wohl, was deutsche Innenpolitiker als geglückte Integration bezeichnen.

Anders als in anderen Einwanderergruppen sind allerdings auch viele der in Berlin lebenden Inder gut ausgebildet: Etwa 1.000 Inder kamen bis Ende der 70er Jahre zum Studium nach West-Berlin; viele blieben als Ingenieure, Ärzte oder Betriebswirte in der Stadt. Auch in der DDR studierten seit 1960 etwa 1.000 Inder, die offiziell allerdings alle wieder zurückkehren mussten. Andere wurden in den 70er-Jahren als Facharbeiter von einer AEG-Tochter in Bangalore nach Berlin geholt; wieder andere kamen im Rahmen der Familienzusammenführung.

All das stimmt einen etwas verwundert – drängt sich doch bei einer Reise durch die Innenstadtbezirke immer stärker der Eindruck auf, jeder einzelne Inder in Berlin habe ein Restaurant eröffnet. Nach groben Schätzungen gibt es inzwischen über hundert indische Restaurants in der Stadt. Gerade in den Bezirken Schöneberg, Kreuzberg und Prenzlauer Berg liefern sie sich einen fast schon erbitterten Preiskampf.

„Indische Küche schmeckt den Leuten nun einmal“, erzählt ein Koch in Kreuzberg, „da wären wir doch dumm, nicht mit einem Restaurant unser Glück zu versuchen.“ In einigen der Restaurants allerdings arbeiten auch die Inder, die nicht so viel Glück bei der Ausbildung - oder bei der Jobsuche – hatten; oft für wenig Lohn und unter schlechten Arbeitsbedingungen. Und: In der indischen Restaurantszene finden sich diverse Nichtinder. Auch Pakistani oder Bengalen, ja, sogar Tamilen aus Sri Lanka, die historisch wenig mit Indien gemein haben, haben indische Restaurants eröffnet. Schließlich, argumentiert der Besitzer eines kleinen Kreuzberger Restaurants, könne sich unter bengalischer Küche kaum jemand etwas vorstellen.

Der berühmteste Inder in Berlin und Umgebung bisher ist allerdings weder Koch noch Computerexperte: Ravindra Gujjula, seit 1993 Bürgermeister der brandenburgischen Gemeinde Altlandsberg, die nur wenige Kilometer östlich der Berliner Stadtgrenze liegt. Gujjula, der aus Hyderabad stammt (auch eine der Städte, in denen die Computerindustrie boomt), kam 1973 als 18-Jähriger zum Medizinstudium in die DDR. Seit 1982 arbeitet er als Arzt in der 4400-Seelen-Gemeinde. Nachdem er schon in der DDR politisch aktiv war, sich in der Antiapartheid-bewegung engagierte und auch schon mal mit Aktivisten der damals noch tabuisierten palästinensischen Befreiungsorganisation PLO diskutierte, startete er nach dem Mauerfall voll durch, Gujjula organisierte Diskussionsrunden zu Gewalt in der Schule, stritt gegen Ausländerfeindlichkeit und kämpfte vor allem an allen Fronten für seine Mitbürger in Altlandsberg. 1998 wurde er mit überwältigenden 81 Prozent der Stimmen als Bürgermeister im Amt bestätigt. „Unser Inder“ nennt man ihn seit Jahren im ansonsten nicht gerade als übermäßig tolerant bekannten Brandenburg fast zärtlich.

Auch zurzeit ist Gujjula wieder ein gefragter Mann: Ausländische Sender von BBC bis CNN rufen an und wollen ein Interview. Thema: die geplante Green Card. Gujjula, der nach jahrelanger Parteilosigkeit 1998 in die SPD eintrat, beobachtete die Initiative Gerhard Schröders schon mit gemischten Gefühlen: „In den USA bekommen die Leute nach 15 Jahren die Staatsbürgerschaft“, so Gujjula, „und hierher sollen sie ohne ihre Familien kommen, die Sprache lernen – und nach drei oder fünf Jahren wieder nach Hause fahren. Das ist doch ein bisschen naiv.“

Wie sich jetzt zeigt, behielt Gujjula Recht. So wirft die derzeitige Debatte um die Einführung einer so genannten Green Card ganz nebenbei auch ein bezeichnendes Licht auf eine bisher wenig beachtete Minderheit. Die meisten der in Berlin lebenden Inder stammen aus aufstrebenden Metropolen wie Bombay, Pune, Hyderabad oder Bangalore. Fast jeder von ihnen hat ebenso hoch qualifizierte Verwandte, die er oder sie längst hatte nach Deutschland einladen können – wenn man sie denn darum gebeten hätte. Stattdessen müssen sie sich für ihre Freunde verbürgen, um überhaupt besucht werden zu dürfen – und auch das geht nur halbwegs unproblematisch, wenn sie im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind. Längst haben die Hürden deutscher Ausländerpolitik unter den hoch qualifizierten Indern zu Unmut geführt – auch mit Blick auf die Deutschen, die jährlich ungebeten die Strände von Karnataka oder Goa bevölkern dürfen. Oder, wie die Sozialarbeiterin Sushila Sharma-Haque es formuliert: „Jeder Hippie, jeder Junkie kann nach Indien reisen. Und indischen Doktoren wird ihr Visum verweigert, wenn sie uns nur besuchen kommen wollen.“

Hinweise:Beim einzigen Yogi in Berlin haben bereits 30.000 Menschen Yoga gelerntUngebeten fahren die Deutschen nach Goa, einem Inder aber wird das Visum verweigert