„Sie war völlig regungslos“

Seit drei Wochen verhandelt das Hamburger Landgericht über den Mord an der Spanierin Maria del Carmen, die auf Mallorca vergewaltigt und erdrosselt wurde. Der Angeklagte schweigt
Von Elke Spanner

Die Spuren enden mitten in der Nacht. Als die beiden zu betrunken waren, um weiter zu tanzen, und ihre Freundin dann für Maria del Carmen ein Taxi rufen ging. Sie torkelte selber, von Wodka-Lemon und Tequila betäubt, und brauchte fast eine Stunde für die 100 Meter zum Telefon und zurück. Als sie wieder bei der Diskothek ankam, war Maria weg. Statt mit einem Taxi war sie mit dem Hamburger Andreas O. vom „Van-Van“ fortgefahren. Fünf Monate später entdeckte ein Hirtenhund Marias Leiche in einem Gebüsch.

Eine Zuschauerin, die verspätet den Saal des Hamburger Landgerichts betritt, fragt irritiert, wo denn der Angeklagte sei. Andreas O. hat sie für einen Rechtsanwalt gehalten. Wie der Verteidiger neben ihm trägt er Bart, und wie sein Verteidiger ist er dunkel gekleidet, mit weißem Hemd und Schlips unter dem Jacket. Den Kopf auf die linke Hand gestützt, hört er hochkonzentriert zu und schreibt mit. Dann und wann kommentiert er seinem Anwalt gegenüber leise das Geschehen. Stellt der Anwalt Fragen an ZeugInnen, flüstert Andreas O. ihm diese bisweilen ins Ohr.

Für die Eltern der ermordeten Maria ist dieser Mann ein Mörder, der ihre Tochter vergewaltigt und erdrosselt hat. Ein Foto von ihr tragen Gracia Fajardo und Enrique del Salto als stumme Anklage am Revers. Sein Anwalt Ernst Medecke stellt ihn als unschuldig Verfolgten dar, dem Dank medialer Vorverurteilung seitens der deutschen Justiz keine Gerechtigkeit mehr widerfahren könne. Keine dieser Rollen nimmt Andreas O. im Gerichtssaal an. Seine Person verbirgt der 34-Jährige hinter der Neutralität eines Prozessbeobachters. Neben dem Mord an Maria ist er in dem Verfahren, das am 6. Juni eröffnet wurde, noch wegen Vergewaltigung einer 17-Jährigen angeklagt.

Maria war in jener Nacht zum 22. Mai vorigen Jahres mit dem Hamburger Feuerwehrmann, der auf Mallorca als Tauchlehrer jobbte, von der Diskothek fortgefahren. Soviel steht fest und wird auch von Andreas O. nicht geleugnet. Er hatte ihr im „Van-Van“ aufgeholfen, als Maria sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und zu Boden gestürzt war. Andreas O. brachte sie nach draußen auf eine Bank, das sagen ZeugInnen und er selber auch. Zusammen mit zwei TauchschülerInnen aus Nürnberg wartete er auf das Taxi, das Marias Freundin Inmaculada bestellen ging. Zuerst geduldig, aber irgendwann kippte die Situation. Die NürnbergerInnen wollten ins Bett und fingen an zu drängeln, auch Andreas O. hatte die Warterei langsam satt. Also luden sie Maria in sein Auto und fuhren los. „Sie war völlig regunglos und stöhnte nur manchmal“, so der Nürnberger Bekannte Andreas M. vor Gericht.

Sie wollten die betrunkene Maria in eine Arztpraxis bringen, die erste hatte zu, die zweite auch. Schließlich lud Andreas O. seine Bekannten bei ihrem Hotel ab. Maria, sagte er ihnen, würde er ins Krankenhaus nach Porto Christo bringen. Das war, als der Morgen schon langsam dämmerte. Kurz darauf, gegen sechs Uhr früh, ist Andreas O. überstürzt aus Mallorca abgereist. Maria wurde nie mehr lebend gesehen.

Vor Gericht sagt Andreas O. nichts. Bei der Polizei hatte er einmal gesprochen, als Maria vermisst, ihre Leiche aber noch nicht gefunden worden war. Er hatte behauptet, sie seien sich „näher gekommen“, als sie alleine im Auto waren. Nach dem freiwilligen Sex habe er die Frau in Porto Christo auf einem zentralen Platz abgesetzt. In der Tauchschule „Albatros“ hatte er beim hastigen Packen erzählt, er müsse abreisen, weil seine Mutter erkrankt sei. Gegenüber der Polizei sollte er später von „Geldproblemen“ sprechen.

Maria war unter ihren Freundinnen für ihre Zurückhaltung bekannt und geschätzt. Noch wohnte die 28-Jährige bei ihrer Familie in Porto Christo. Sie träumte nicht von einem bunten, sondern einem abgesicherten Leben, eigene Wohnung, Auto, schuldenfrei. „Sie ging nur selten aus und trank fast nie“, beschreibt sie ihre Freundin Inmaculada. Maria sprach über Geld und nicht über Männer. Nur einmal, berichtet die Freundin, seien sie auf das Thema gekommen. Da standen sie zusammen in der Wäscherei, in der beide arbeiteten. Maria habe ihr anvertraut, dass sie „niemals in der ersten Nacht mit einem Mann schlafen würde“. Auch ihre Schwester Silvia, mit der sie ein Zimmer teilte, kannte Maria als zurückhaltende Frau: „Sie ging nicht mit irgendeinem aus und konnte sich Männer vom Leibe halten.“

Andreas O., sagt dessen Tauchschüler Andreas M., sei „nicht so ein Anmach-Typ“. Nett sei er gewesen, vertrauenswürdig, „ein sehr angenehmer Mensch“. Und hilfsbereit. Schließlich habe er eine Dreiviertelstunde mit auf das Taxi gewartet, ehe er sich entschloss, Maria ins eigene Auto zu legen. Weil man sich so gut verstanden hatte, hatten seine Bekannten zunächst keinen Anlass, ihm Misstrauen entgegenzubringen. Zum Beispiel, als er plötzlich darauf bestand, mit Maria alleine weiterzufahren und sie ins Krankenhaus nach Porto Christo zu fahren – obwohl eine Arztpraxis direkt gegenüber dem Hotel, vor dem die beiden Beifahrer ausstiegen, geöffnet war.

Auch der Kollege Marc R. aus der Tauchschule „Albatros“, den er um sechs Uhr weckte und bat, ihm beim Einladen der Tauchausrüs-tung zu helfen, hat das gerne getan. Andreas O. sei aufgeregt gewesen, aber gewundert habe ihn das nicht. Marc R. dachte schließlich, er habe soeben vom Herzinfarkt seiner Mutter erfahren.

Dann aber kam die Guardia Civil zu „Albatros“, und mit ihr der Verdacht, der geschätzte Freund und Kollege könnte ein Verbrecher sein. Jetzt, im nachhinein, wundert sich der Nürnberger Andreas M. über die überstürzte Abreise seines Tauchlehrers. Schließlich hatte er sich am Abend im „Van-Van“ noch darauf gefreut, dass am nächsten Tag seine Freundin aus Hamburg nach Mallorca kommen sollte. Und: Andreas O. sagt, er und Maria seien sich im Auto „näher gekommen“, sie hätte willentlich mit ihm Sex gehabt. Sein Bekannter hingegen sagt, Maria sei gnadenlos betrunken gewesen. „Ihre einzige Regung hat darin bestanden, dass sie sich zweimal übergeben hat.“ Als Andreas O. sie ins Auto getragen habe, habe sie „schlaff in seinen Armen gelegen“. Nur gesagt habe sie etwas: „Nein, bitte nicht“.

Bis eine Woche vor seiner Abreise hatte sich Andreas O. ein Zimmer mit Torben W. geteilt. Auch der fand einiges merkwürdig, als plötzlich Gerüchte über den Freund die Runde machten. Er aber hat versucht, „so sachlich wie möglich an die Geschichte ranzugehen“. Torben W. war es, der Andreas O. eines Tages informierte, dass die spanische Polizei nach ihm suche. Das war, als sie Anfang Juni bei einem Tauchwochenende nahe Stade abends am Lagerfeuer zusammen saßen. Erschrocken habe Andreas O. darauf reagiert. Dann habe er gesagt, die Polizei dürfe ihn nicht finden. Man habe „wegen so einer Prostitutionssache“ mal einen DNA-Test bei ihm gemacht. Was für eine Sache das war, hat Torben W. nicht gefragt.

Bei jenem Gespräch am Lagerfeuer hatte Andreas O. den Freund angelogen. Er erzählte ihm, dass Maria gar nicht in seinem Auto gewesen sei, sondern er „das Mädchen“ auf der Bank habe liegenlassen. Dem Freund fiel ein Stein vom Herzen. „Ich war sehr erleichtert. Ich habe Andreas geglaubt.“ Bereitwillig hat er ihm dann auch nachgesehen, dass er zuvor bei mehreren Telefonaten auf besorgte Nachfragen zum Gesundheitszustand seiner Mutter Auskunft gegeben und erst am Lagerfeuer zugegeben hatte, dass er deren Herzinfarkt frei erfunden hatte. Torben W. ist auch nicht darüber gestolpert, dass Andreas O. ihm erzählte, er habe nach seiner Rückkehr aus Mallorca sein Auto von innen reinigen lassen.

Obwohl sich Andreas O. auf die Ankunft seiner Freundin freute und oft von ihr sprach, war sein Sexualverhalten auf der Insel „vielfältig“, wie Torben W. es beschreibt: „Er hatte mehr weibliche Bekanntschaften als andere Leute“, häufig one-night-stands. Wie diese abliefen, ist ins Gerede gekommen, als Gerüchte über das Verschwinden von Maria die Runde machten. Die Chefin vom „Albatros“ deutete den anderen Tauchlehrern gegenüber an, Andreas O. habe „eine Vorliebe für Gewaltpraktiken“. Sein damaliger Zimmernachbar glaubt, dass er „auf eine andere Art von Sex steht, auf härteren Sex“. Ihm habe eine Freundin und Ex-Geliebte von Andreas O. anvertraut, dass dieser „keine zärtlicher Liebhaber ist, sondern weitestgehend brutal vorgeht“. Im seinem verwaisten Zimmer hatte die Polizei eine Leine gefunden. „Ich meine mich zu erinnern“, berichtet ein Kollege, „dass er mir erzählte, dass er seine Geliebte damit gefesselt hat.“ Selbst diese Details schreibt Andreas O. mit, als ginge es nicht um seines, sondern um das Intimleben eines Fremden.

Indizien dafür, was genau sich in jener Nacht auf Mallorca abgespielt hat, gibt es keine. Maria hat Verletzungen, aus denen die Staatsanwaltschaft folgert, dass sie vergewaltigt und dann stranguliert worden ist. Aber an ihrer Leiche fand die Polizei keine Fasern, keine Haare, kein Sperma, nichts, was auf den Täter schliessen lassen könnte. Der Verteidiger von Andreas O., Ernst Medecke, ist überzeugt, dass die Leiche nicht fünf Monate dort gelegen haben kann, wo sie gefunden wurde. Nur wenige Meter von der Stelle entfernt würden regelmäßig Schafe grasen, bewacht von Schäfer und Hund. Der Hamburger Anwalt von Marias Eltern, Thomas Hardtmann, fragt hingegen, wie lange die Leiche nach Medeckes Ansicht dann dort gelegen haben könnte. Als sie aufgefunden wurde, hatte Maria die Kleidung an, die sie in der Nacht ihres Verschwindens trug, und „der Grad der Verwesung passt zum Zeitpunkt des Verschwindens“. Für ihn und Marias Familie steht außer Frage, dass Andreas O. der Mörder ist. „Was hätten seine Spuren an der Leiche, wie Sperma, noch beweisen sollen?“ fragt er. „Er hat doch eingeräumt, dass er Sex mit Maria hatte.“