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: Der Fall Baumann überfordert den Sport

Das Ende der Weisheit

Wenn Helmut Digel sich das nächste Mal bei einer Sitzung des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF) zu Wort meldet, kann er sicher sein, eine ganze Reihe feixender Gesichter zu erblicken. Unermüdlich, eloquent und mit viel Verve hatte der Präsident des deutschen Verbandes DLV in den letzten Jahren die Rolle des Moralapostels der weltweiten Leichtathletik übernommen und den Funktionären aus anderen Länder vor allem bei einem Thema immer wieder die Leviten gelesen: Dopingbekämpfung.

Wie hatte er noch im Rahmen der Weltmeisterschaften letztes Jahr in Sevilla die Kubaner gescholten, die den kokainpositiven Hochspringer Javier Sotomayor freigesprochen hatten; die Jamaikaner, die Gleiches mit der Nandrolon-ertappten Sprinterin Merlene Ottey taten; die Engländer, die Linford Christie und andere nicht verurteilen mochten; und die Amerikaner erst, die dem Sprinter Dennis Mitchell doch tatsächlich geglaubt hatten, dass sein hoher Testosteronwert von Sex und zu viel Bier käme. Unnachgiebig redete Digel auf die Vertreter der laxen Verbände ein, bis ihnen der Schweiß auf die Stirn trat und sie kaum noch ein oder aus wussten. Und es gelang dem kämpferischen DLV-Präsidenten tatsächlich, einiges zu bewegen. Beim großen Dopingkongress im Februar 1999 drangen er und seine Mitstreiter erstmals bis zur IOC-Spitze durch, und auch in der IAAF verlor die Fraktion der soften Verharmloser zunehmend an Boden. Das alles war vor dem Fall Dieter Baumann.

Mit dem Verlust der Unschuld im eigenen Hause, der schmerzhaften Durchdeklinierung der eigenen Leitsätze am extremen Beispiel, bröckelte auch das Sendungsbewusstein. „Das Kontrollsystem des DLV wird jetzt nicht zusammenbrechen“, kommentierte Helmut Digel tapfer den Freispruch für den ehemaligen verbalen Großinquisitor des deutschen Anti-Doping-Kampfes durch den Rechtsausschuss des DLV. Andere sehen das anders, wie Ulrich Feldhoff, Vizepräsident für Leistungssport im Deutschen Sportbund (DSB): „Der Sport wird doch handlungsunfähig.“

Das mag übertrieben sein, doch der Fall Baumann zeigt deutlich, was Digel nun selbst auf den Punkt brachte: „Der Verband ist mit einem solchen Verfahren überfordert.“ Wo positive Dopingproben zum verbrecherischen Anschlag geraten, wo Funktionäre über kriminalistische Vorgänge befinden müssen, endet zwangsläufig die Kompetenz des Sports. Nur logisch, dass man sich in einem solchen Fall für die sichere Seite entscheidet. Wie immer die genaue Begründung aussehen mag, frei übersetzt heißt das DLV-Urteil im Fall Baumann: „Ehe wir später aufgrund der Entscheidung eines ordentlichen Gerichtes Schadenersatz in Millionenhöhe zahlen müssen, sprechen wir ihn lieber frei und schauen, was die IAAF macht.“ Ein Weg, den die meisten Verbände gehen, seit es dem ehemaligen 400-m-Weltrekordler Butch Reynolds nach positiver Dopingprobe um ein Haar gelungen wäre, 50 Millionen Dollar Schadenersatz einzuklagen, obwohl er nichts vorzuweisen hatte, außer dass ihn eine Sperre an der Berufsausübung hindern würde.

Digel selbst hat mit seiner Hartnäckigkeit dazu beigetragen, dass die nationalen Verbände sich seit dem Frühjahr noch beruhigter zurücklehnen und auf die IAAF schielen können. Wenn der Weltverband ein Urteil nicht akzeptiert, wird der betreffende Athlet, im Gegensatz zu früher, sofort von neuem suspendiert. Es kann also sein, dass es mit solch beeindruckenden Auftritten wie gestern in Nürnberg, wo Dieter Baumann die Olympianorm über 5.000 m deutlich unterbot, bald schon wieder vorbei sein wird.

Obwohl die Verteidigung des 35-Jährigen außer dem Gutachten eines Wahrsagers so ziemlich alle Register gezogen hatte, um die Theorie des Zahnpastaattentats und die Unschuld Baumanns zu untermauern, kann von einem Anscheinsbeweis kaum die Rede sein. Trotz erfolgreicher, von Experten jedoch scharf kritisierter Schamhaaranalyse stehen nach wie vor zwei positive Dopingproben gegen die Beteuerung des Athleten, niemals gedopt zu haben. Glauben oder Nichtglauben ist die Frage, die Fachwelt und Nation spaltet. In Deutschland überwiegt die Bereitschaft, dem sympathischen und integeren Vorzeigeathleten Dieter Baumann abzunehmen, dass er nicht die kriminelle Energie für eine derart raffinierte Konstruktion besitzt, wie sie das dentale Vergiftungskomplott darstellt. In internationalen Kreisen, wo man bereits mit weit abstruseren Verschwörungstheorien zu tun hatte, zum Beispiel dem essensvergiftenden Ehemann der ehemals russischen Hürdenläuferin Ludmila Naroschilenko, heute Enqvist, oder der kubanischen Version vom CIA-Anschlag auf Sotomayor, ist man da möglicherweise abgebrühter. „Ich denke, dass die IAAF zu einem anderen Ergebnis kommt“, sagt der ehemalige Hürden-Europameister Harald Schmid, einer der frühen Anti-Doping-Aktivisten in Deutschland.

Die Verbände, das hat der Fall Baumann drastisch gezeigt, sind ans Ende ihrer Weisheit gelangt. Allein die unzumutbare Dauer solcher Verfahren, wie sie sich derzeit Baumann, Sotomayor, Ottey ausgesetzt sehen, stellt einen Skandal dar. Für eine Verbesserung der Situation könnte ein Netz nationaler Dopingagenturen sorgen und vor allem eine internationale Agentur, die ihrem Namen und ihrem Auftrag gerecht wird.

Für Helmut Digel aber stellt der Fall Baumann insgesamt, aber auch das ergangene Urteil, einen empfindlichen Rückschlag in seinem Bestreben dar, die Leichtathletik-Welt umzukrempeln, möglicherweise gar als IAAF-Präsident. Wenig verwunderlich, dass er jetzt sogar dunkel von „persönlichen Konsequenzen“ spricht.

MATTI LIESKE