„Fressen Raum des Gegners“

Nach dem Viertelfinalerfolg über Rumänien strotzen die Italiener vor Selbstbewusstsein ob ihres coolen Auftritts, und die „polèmica“ um Stürmer Del Piero scheint sie noch stärker zu machen

aus Brüssel RONALD RENG

Der Ball ruhte, die italienische Abwehrmauer formierte sich in Erwartung eines rumänischen Freistoßes, als plötzlich ein Aufschrei durch das König-Baudouin-Stadion in Brüssel ging. Was war passiert? Alessandro del Piero zog sich aus. Zwar nur die Trainingsjacke, aber das war Grund genug für die italienischen Fans, auszuflippen. Denn das war das Zeichen, dass Del Piero nun, nach 75 Spielminuten, doch noch eingewechselt werden würde.

Wieder einmal erhitzt sich Italien in einer Debatte, welcher Stürmer auflaufen soll. Es scheint, als wäre für Italiener eine Welt- oder Europameisterschaft nicht der Rede wert ohne eine richtige polèmica, wie sie solche Diskussionen nennen. Mancher mag sich noch an das Palaver bei der WM 1970 erinnern, als das Land seine Leidenschaft der Frage widmete: Sandro Mazzola oder Gianni Rivera? Bei der Weltmeisterschaft in Frankreich 1998 gab es schon nur ein Thema: Del Piero oder Roberto Baggio. Und nun ereifern sich Politiker, Taxifahrer, Zeitungen über die Frage: Francesco Totti oder Del Piero? Nach den Sympathiekundgebungen in Brüssel beim 2: 0-Sieg im EM-Viertelfinale über Rumänien zu schließen, ist das Volk mehrheitlich auf Seiten Del Pieros, der bei Juventus Turin mit seinen mitreißenden Dribblings zum Liebling wurde; auch weil bei den Sprints die langen, dunklen Locken so schön wehen.

Nationaltrainer Dino Zoff aber setzt auf Totti, und der Spielführer des AS Rom bestätigte die Wahl prompt mit dem Tor zum 1:0 gegen die Rumänen, dem Fillipo Inzaghi noch vor der Halbzeit den zweiten Treffer folgen ließ. Heißt das, Totti und Inzaghi haben über Del Piero gesiegt, fragte jemand Trainer Zoff das Unvermeintliche. „Aber“, sagte Zoff in seiner leisen, fast schon lethargischen Art, mit der er Pressekonferenzen bestreitet, „das ist doch nicht wichtig. Die Mannschaft hat gewonnen.“

In der Tat mag die polèmica über Totti oder Del Piero noch so spannend sein, das wahre Thema in Brüssel musste ein anderes sein. Die Italiener haben zu einer Eiseskälte in ihrem Spiel gefunden, mit dem sie den ganzen Weg bis ins EM-Finale gehen könnten. Teilweise standen sie mit elf Mann in der eigenen Hälfte und erinnerten trotzdem nicht an den langweiligen Destruktivfußball, für den italienische Teams einst berüchtigt waren. Denn es war immer das Gefühl da, dass diese Squadra Azzurra plötzlich wie eine Feder nach vorne schnellen würde zum Angriff. So kalt, so cool gingen sie bei Ballgewinn zur Attacke über. Der 28-jährige Demetrio Albertini vom AC Mailand erwies sich im defensiven Mittelfeld mit seinen steilen, schnellen Pässen als Meister des scharfen Übergangs.

Rumänien hatte deutlich mehr vom Ball; 55 Prozent der Spielzeit war er in ihren Reihen, und so drängten sie die Italiener oft tief in die Defensive. Aber das schien diese nicht zu stören. „Es ist leichter zu verteidigen, wenn du zurückgedrängt wirst“, erklärte Verteidiger Fabio Cannavaro, „denn weil wir so kompakt stehen, das heißt die Mittelfeldspieler und Stürmer nicht weit vor uns, musst du als Verteidiger weniger Raum abdecken. Wir fressen den Raum des Gegners.“ An diesem Abend zeigte Italien, dass Verteidigung nicht nur Basis des Sieges, sondern auch ansehnlich sein kann.

Nur Dino Zoff ließ die Bestimmtheit seines Teams vermissen. Wird Italien jetzt Europameister, war die Frage. „Beh“, stieß Zoff hervor und schüttelte sich geradezu ängstlich, „ich weiß nicht, ob wir stark genug sind.“ Was sollte er jetzt auch noch solche Erwartungen schüren. Er hat genug zu tun mit der Totti-oder-Del-Piero-Debatte. Gegen Rumänien wirkte der geschwinde Totti eindeutig besser geschaffen für das klare Angriffsspiel als der wuselige Del Piero.

Aber so rein fachlich geht es in einer polèmica natürlich nicht zu. Totti versus Del Piero, das ist auch Rom gegen Turin, Süd gegen Nord. „Hier ist Tottis Italien“, meldete die römische Sportzeitung Corriere dello Sport fett und stolz auf Seite eins. Tuttosport aus Turin dagegen nahm nach diesem Spiel erst einmal von vollmundigen Schlagzeilen pro Del Piero Abstand. Das Blatt war schon am vergangenen Freitag reingefallen. „Welche Überraschung im Training: Del Piero statt Totti“, konnte da vermeldet werden, als Zoff den Turiner statt den Römer in der ersten Elf spielen ließ. Vielleicht war es nur ein Ablenkungsmanöver für die anwesenden rumänischen Fernsehkameras gewesen.

Italien: Toldo - Cannavaro, Nesta, Iuliano - Zambrotta, Conte (56. Di Biagio), Albertini, Fiore, Maldini (46. Pessotto) - Inzaghi, Totti (75. Del Piero) Rumänien: Stelea - Ciobotariu, Belodedici, Filipescu - Petre, Hagi, Galca (68. Lupescu), Munteanu, Chivu - Moldovan (54. Ganea), MutuSchiedsrichter: Melo Pereira (Portugal)Tore: 1:0 Totti (33.), 2:0 Inzaghi (43.) Gelb-Rote Karte: Hagi (Rumänien) wegen Unsportlichkeit (59.)