Besuch im Elfenbeinturm

Begegnung mit einem altmodischen Experten

von GABRIELE GOETTLE

Als ich einem medizinischen Experten unlängst erzählte, dass sich meinen Studien bei den Armen nun eine Erkundung des Experten anschließt, sagte er spontan: „Was wollen Sie mit Experten, Experten sind doch stinklangweilig!“ Das ist es ja gerade, was mich interessiert. Immerhin liefern Experten das gesamte Instrumentarium für die Umgangsweise mit der Welt. In den 70er-Jahren noch war der Experte ein Gegenstand von Kritik und Interesse. G. Anders prägte, gegen das Klischee vom „blutigen Laien“, den Begriff des „blutigen Experten“. Danach wurde es still um den Experten. Heute zeigen die Computer der Buchhändler unter diesem Stichwort keine Titel mehr an. Das ist ein Mangel, denn dieser Gegenstand ist ja nicht vertrauter, sondern immer fremder geworden, unsichtbarer. Der Experte geht einer hermetischen Beschäftigung nach, dem gesellschaftlichen Alltag des Laien vollkommen entfremdet. Worüber er nachdenkt und spricht, ist gewöhnlich sein Fachgebiet, er hat Kollegen, bildet Gesellschaften, besucht Kongresse und liest Fachzeitschriften. Es handelt sich, wie E. Chargaff es polemisch formulierte, um „Leute, die alles über den 15. Fuß des Tausendfüßlers wissen“. Wie nähert man sich ihnen, wenn man nichts darüber weiß? Sie haben vermutlich keine Ahnung vom Ausmaß der Laienhaftigkeit des Laien und ebenso wenig hat der Laie eine Ahnung vom Ausmaß der Expertenhaftigkeit des Experten – dazu fehlen ihm einfach die Voraussetzungen. Normalerweise begegnen sich Experten und Laien aber gar nicht und wenn doch, so in einem festgelegten, funktionalen Verhältnis. Da aber niemand Laie auf jedem Gebiet ist und keiner Experte für alles, ist die Beschränktheit im Grunde wieder eine gemeinsame. Es wird sich zeigen, ob Experten, Fachleute und Spezialisten darstellbar sind.

Hans-Jürgen Treder, emeritierter Professor der Humboldt-Universität, Experte, durch seine Fachkompetenz als Physiker in Fragen der Relativitätstheorie international bekannt und anerkannt, wird unser erster Gesprächspartner sein. Er wurde 1928 geboren, studierte Mathematik, Physik und Philosophie, wurde 1966 als Mathematiker zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften berufen (auf Empfehlung des Nobelpreisträgers Hertz), war 1968 bis 1972 Direktor des Forschungsbereiches Geo- und Kosmowissenschaften. Bis 1982 Direktor des Institutes für Astrophysik an der Akademie der Wissenschaften, als solcher richtete er internationale Einstein-Konferenzen aus; auf seine Initiative hin wurde zu diesem Zweck das vom Verfall bedrohte Einstein-Haus in Caputh restauriert. 1982 bis 1990 war Treder Direktor des Einstein-Laboratoriums für theoretische Physik in Potsdam Babelsberg, wo er heute noch wohnt. An einem heißen Sommertag im Juni 2000 fahren wir, zusammen mit Frau Irene Henselmann, der wir diesen Kontakt verdanken, hinaus in den Südwesten der Stadt. Unsere Vermittlerin, die 1915 geboren ist und gerade ein Buch schreibt über all die Personen, die ihren Lebensweg kreuzten, will ihrem alten Freund die ihn betreffende Stelle vorlesen und begleitet uns deshalb.

Die Sternwarte liegt auf einer Anhöhe, inmitten eines Lennéschen Landschaftsparkes, der einstmals Teil des Schlossparks Babelsberg war. Das Gelände ist gesichert durch Umzäunung, Wachhäuschen und Schlagbaum. Durchs große schmiedeeiserne Eingangstor sieht man zur Sternwarte hin, die ein wenig an Schloss Sanssouci erinnert. Gleich rechts daneben steht die repräsentative Direktorenvilla, in der unser Gastgeber vormals wohnte und arbeitete. Heute lebt er in einem der verstreut auf dem Gelände liegenden Häuschen, die zur Unterbringung der Mitarbeiter dienten, denn die mussten bei klarem Himmel ja nachts jederzeit bereit sein, ihre Beobachtungen aufzunehmen. Hier wirkt alles sehr privat und lauschig. Nachtigallen schlagen, kein Mensch ist zu sehen. Auf unser Klingeln an der verschlossenen Haustür ertönt von oben eine Männerstimme, nach einer Weile öffnet sie sich. Vor uns steht ein großer, leicht gebeugter, weißhaariger Mann, in einer sehr geräumigen, aus der Form geratenen schwarzen Hose. Er trägt bräunliche Wildlederhausschuhe und ein graublaues Feinstrickhemd mit offenem Kragen. Mit einem etwas unsicheren Lächeln gibt er uns überraschend fest die Hand und bittet uns nach oben in den ersten Stock.

Die Wohnung ist angenehm kühl und wirkt auf den ersten Blick schlicht, geradezu spartanisch. Sorgsam ist für unsere Bewirtung alles bereitgestellt, lediglich der Kaffee muss noch gemacht werden. Die Küche ist die eines Junggesellen, alles ist peinlich sauber und scheint kaum benutzt zu werden. Im geräumigen Flur liegt unvermutet ein Gartenzwerg auf einem Schränkchen. Die Türen zu den umliegenden Räumen sind offen. Im Arbeitszimmer herrscht strahlendes Sonnenlicht. Die Bücher stehen in dunklen Holzregalen mit großen Fächern, ihre Anzahl wirkt irgendwie wohltuend maßvoll. In Kartons auf dem Boden ruhen weitere Bücher und Manuskripte. An der Wand hängt eine Portraitzeichnung Einsteins und ein schöner Stich, der Galileo Galilei zeigt. Der Schreibtisch steht schräg zum Fenster hin, durch das man auf nichts als grüne Baumkronen blickt. Hier gibt es keinen Computer. Außer Kaffeemaschine, Kühlschrank, Waschmaschine, Fernseher und Telefon scheint es keinerlei nennenswerte moderne Technik in diesem Haushalt zu geben. Ja, selbst etwas so Fundamentales für das Klischee vom Gelehrten wie der Schreibtisch macht einen unbenutzten Eindruck. Herr Treder erklärt, voller Abneigung auf den Schreibtisch blickend: „Ein Schreibtisch ist ein Instrument, an dem sicherlich nur Staatsmänner arbeiten können. Kein normaler Mensch hält es aus an einem Schreibtisch. Ich arbeite meistens nebenan.“

Der Raum nebenan liegt auf der Schattenseite und ist spärlich möbliert. Auf dem Boden, gleich neben der Tür, leicht zu übersehen, ein großer Bronzekopf mit Einsteins Zügen. Auf einem Schrank an der gegenüberliegenden Wand steht Herr Treder in Bronze, lang wie ein Unterarm und in merkwürdiger Gesellschaft einer indischen Gottheit, eines jüdischen Leuchters und eines chinesischen Wasserträgers aus Meißner Porzellan. Von der Decke hängt eine nackte Glühbirne. Alle Möbelstücke sind weitgehend an die Wände gerückt, so dass die Zimmermitte frei passierbar ist. Hier steht auch das Fernsehgerät. Der Besitzer erzählt: „Ich hatte ja Fernsehsendungen verachtet sozusagen, mir dann aber doch einen Apparat zugelegt, denn da kamen die Physiker, von Dürrenmatt, mit der Therese Giese. Und ich dachte, wenn das Fernsehen ist, ist es das Beste, was einem passieren kann, ich war geradezu begeistert vom Fernsehen“, alle lachen sehr, „seh’n Sie, das ist der Einfluss der Physik aufs Leben – was Semmelweis für die Mütter, das ist Ferdinand Braun fürs Familienleben . . .“ Wir werden gebeten Platz zu nehmen auf freischwingenden Kunstledersesseln, zu Kaffee und Kuchen, am Arbeitsplatz des Gelehrten, einem runden Tischchen, bedeckt mit Wachstuch.

Herr Treder ist gottlob ausgesprochen zugänglich und gesprächig und versteht sogar Spaß, was sich zeigt, als Irene Henselmann ihm ihre Beschreibung seiner Person vorliest. Der Einfachheit halber versuche ich einiges davon wiederzugeben. Sie beschreibt, dass seine Bibliothek überraschend ungeordnet sei. Fontane stehe neben Diderot, Thomas Mann neben Adorno, nur so könne er das gewünschte Buch finden. Herr Treder fährt mit der Hand durch sein bürstenförmig aufstrebendes Haar, sagt, mit dem leichten bis schwereren Stottern, das ihn in Momenten der Verlegenheit oder Anspannung zu überwältigen scheint: „Na ja, na ja, meistens . . . Manchmal finde ich es aber auch nicht. Meine Bücher haben sich selbst geordnet, weitgehend, nach dem Zufallsprinzip, sie finden sich so allmählich zusammen.“ „Am schlimmsten benehmen sich seine Hosen“, liest die Autorin weiter vor, beschreibt, wie sie beim Aufstehen abwärts streben. Kichernd deutet der Gelehrte auf seinen Bund: Ich habe da jetzt einen Gürtel, einen eingebauten Gürtel.“ Herr Treder wird schonungslos und aufs Liebevollste geschildert. Von seiner fast vollständigen Zahnlosigkeit und Verachtung für Gebisse ist die Rede, bis hin zur winzig kleinen Schrift und dem unfehlbaren Gedächtnis des Genies. Zur Schrift erklärt er: „Es ist so, wenn ich klein schreibe, schreibe ich einfach exakter. Das kann ich selber gut lesen und viele Leute behaupten, sie könnten es ebenfalls lesen. Also ich schicke ja auch meine Manuskripte immer handgeschrieben zum Druck. Ich bekomme immer so einen schönen Computerausdruck zur Korrektur und das ist gefährlich, denn dann glaubt man dem Text schon, weil er so schön sauber, fertig und authentisch aussieht.“ Zum Gedächtnis merkt er an: „Das ist sehr unterschiedlich. Ich erinnere mich an alle möglichen wissenschaftlichen Informationen, auch an die kuriosesten, aber ich merke mir weniger die Lebensanekdoten. Ich erinnere mich wenig an persönliche Aktivitäten und ich habe ein sehr schlechtes Namensgedächtnis, beispielsweise. Und das liegt daran, dass ich die Namen nicht erschließen kann. Bei anderen, oft sehr komplizierten Dingen, reicht es aus, wenn ich einen roten Faden habe, dann geht es sehr schnell. Von dem Faden, entlang dem Faden, geht es mit Gedankenschnelle, wie man so schön sagt, bis in die Stelle im Gehirn, wo das Gesuchte gespeichert ist. Ich hatte glücklicherweise ein wunderbares Gedächtnis, jetzt schon lange nicht mehr, ich hatte ein komplettes, fotografisches Gedächtnis.“

Über dieses Gedächtnis hatte Frau Henselmann uns bereits berichtet, er habe es als halbwüchsiger Werwolf dazu benutzt, sich mit einem Blick Verhaftungslisten einzuprägen und die Betroffenen vor der Gestapo zu warnen. Er selbst spielt die Sache herunter: „An mir war nichts Besonderes, ich hatte nur keine Lust mehr. Ich war unauffällig, blond, blauäugig, schlaksig, ganz naiv. Ich war beim Volkssturm und hatte einen Ausweis als Kurier, damit kam ich herum. Diese Listen lagen auf einem Schreibtisch, ich habe sie verkehrt herum gelesen und mir eingeprägt und dann marschierte ich los mit meinem Ausweis, ging hin und sagte nur, er soll sich bereithalten, demnächst wird er abgeholt.“ Er wiegelt überhaupt glaubhaft uneitel ab, wenn es um Lobenswertes an seiner Person geht. Gefragt, was hinter seinen zahlreichen Titeln stecke, sagt er: „Ogottogott – ich habe ein paar Doktortitel, die meisten honoris causa, natürlich!“ In den 70er-Jahren wurde er ein paar Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen. Er erklärt ohne jede Bitternis: „Man schlägt viele vor, das hat gar nichts zu sagen.“ Auf die nahe liegende Frage von uns, ob er denn irgendwann etwas „erfunden“ oder „entdeckt“ habe, bleibt er gelassen: „Ich habe nichts erfunden, gefunden oder – vielleicht etwas aufgefunden, eine Kleinigkeit vielleicht . . . Aber das kann man nicht beschreiben – das sind so mathematische Theoreme beziehungsweise Experimente, die mal gemacht werden sollten, aber es ist nichts daraus geworden, aus technischen Gründen. Es ging um Planetenumläufe, zwei Gegenläufe von Planeten und um die Krümmung des Raumes . . . der Effekt ist also sehr gut, den hatte ich entdeckt gehabt . . . um so größer die Zahl der Umläufe – im Experiment durch Satelliten dargestellt – desto besser würde die Messung . . . und, also wenn keine Krümmung des Raumes wäre, dann gäbe es den Effekt nicht . . . und das könnte man direkt ablesen. Das habe ich also ‚aufgefunden‘, die Sache wird immer noch diskutiert.“

„Aber dein grade verstorbener Schwiegersohn“, sagt er, sich an Frau Henselmann wendend, „hat doch immer so schöne Erfindungen gemacht, ich erinnere mich da an eine Unterhose nach dem Prinzip des Möbius-Bandes?!“ Höchst amüsiert fragen wir nach. Wir drehen aus einem Papierstreifen eine Schleife, reichen sie zur Demonstration und er versucht, mit Zeige- und Mittelfinger hineinzuschlüpfen, sagt „Ja, das geht, na . . . hier, es geht doch!“ Die Schwachstelle scheint uns der Zwickel zu sein. Er sprengt das Band und sagt lachend: „Es würde vielleicht nicht so populär, aber man könnte es an einem Stück weben . . . gedacht war es wohl so, wie das ungenähte Kleid Christi.“ Wir fordern ihn auf, noch ein wenig von sich zu erzählen, was er nach verlegenem Lächeln zögernd tut: „Es gibt zwei, drei Sachen, die mit meinem Namen verbunden sind, aber das sind keine sehr wichtigen Begriffe . . . Ich habe einmal eine Doktrin formuliert, die ich genannt habe nach Mach und Einstein, also der Vorschlag, sie so zu nennen, ist übernommen worden, manche flechten da meinen Namen mit ein, Mach-Einstein-Treder-Doktrin“, kichernd, „manche nennen sie so . . . Wer Mach ist, wissen Sie? Doch, den kennen Sie! Der österreichische Physiker und Philosoph, drei Mach, vier Mach, fünf Mach! Schallgeschwindigkeiten, er hat sie als Erster erforscht, Mach’scher Kegel, kennen Sie . . . und das ist derjenige Mach, über den Lenin geschimpft hat im Empiriokritizismus, da wurde er als Philosoph sehr angegriffen . . . Aber er war ja Physiker. Sein Hauptwerk ist die Geschichte der Physik, das ist die Geschichte der Mechanik und ihrer Entwicklung, ein klassisches Werk. Einstein hat mal gesagt, diese und diese Fragestellung verdanke er Mach. Zwar hat er sie dann anders beantwortet, als Mach das erwartet hatte“, er kichert, „oder vielleicht sogar, als Einstein es selber erwartet hatte – das ist ja oft so in der Wissenschaft.“

Auch Herrn Treder selbst erging es nicht anders: „Mein bekanntestes Buch ist folgendermaßen entstanden: Ich wollte zeigen, dass eine bestimmte Auffassung über die Relativität der Beschleunigung unmöglich ist, ich wollte es beweisen. Und ich habe, während ich es schrieb, bewiesen, dass es möglich ist und wie es geht“, er lacht hoch und glucksend, „gegen meinen Willen ist das geschehen, ich habe Schritt für Schritt gegen meinen Willen gearbeitet! Dabei habe ich wirklich was gelernt. Es ist etwas herausgekommen, was andere auch noch nicht wussten. Es hat niemand gewusst, dass das geht.“ Gefragt nach dem Titel des Buches sagt er vergnügt: „Es heißt ‚Die Relativität der Trägheit‘. Da steht der schöne Satz drin: ‚Um so größer ein System ist, um so träger sind seine einzelnen Mitglieder‘ “, alle brechen in Gelächter aus, „und Kuczynski, der denselben Vornamen hat wie ich, sagte dazu: ‚Jürgen, das ist doch selbstverständlich!‘ “ Der Gelehrte trinkt ein Schlückchen Kaffee und fährt fort, über die oft seltsamen Irrwege zur wissenschaftlichen Klarheit und Wahrheit zu sprechen: „Hundert Jahre Planck’sche Konstante, die größte Entdeckung der Physik, die vielleicht je gemacht worden ist. Die gesamte heutige moderne Technik, Mikrotechnik, lebt ja von der Planck’schen Konstante . . . Und sie ist von Planck entdeckt worden aus ganz anderen Gründen. Er interessierte sich für eine bestimmte Frage, bei der zwei anerkannte Theorien sich gegenseitig widersprechen. Das ist für einen Physiker das Schönste, was es gibt, sich experimentell zu nähern, zu sehen, was kommt denn tatsächlich raus, stimmen beide, oder nur die eine, die andere, oder stimmen vielleicht beide nicht? Und manchmal ist man mit dem Ergebnis, obwohl es unwiderleglich wahr ist, nicht zufrieden. Planck hat sich ja zeitlebens gegen sein Wirkungsquantum gesträubt, aber er hat es natürlich nicht geleugnet, es hat ihm nur nicht gefallen.“

Auf die Feststellung, man müsse in der Naturwissenschaft vollkommen absehen können vom subjektiven Standpunkt, von der Person, das sei ein kategorischer Imperativ, antwortet er auf die Frage, ob denn die Denkergebnisse von, beispielsweise, Descartes ohne die spezifische Persönlichkeit Descartes’ denkbar wären, unter anderem Folgendes: „Ja und nein – es ist so, die Art und Weise der Entdeckung, des Forschens, hängt natürlich ab von der Person, es bedarf ihrer. Auch zur Entdeckung eines mathematischen Lehrsatzes, den kann man nicht algorithmisch (einem methodischen Rechenverfahren folgend, d. A.) entdecken, es gibt keinen Entdeckungsalgorithmus. Keine Vorschrift, wie man etwas entdecken kann, das ist immer mit einem persönlichen Erlebnis verbunden, es wird von vielen, vielleicht sogar von allen, die mal was entdeckt haben, als persönliches Erlebnis empfunden. Je nach Art und Weise der Beschaffenheit der Person, als göttliche Offenbarung, nicht wahr, als Liebeserlebnis, bis sogar zum Erguss. Bis zum Erguss, jawohl! Und da eine Maschine nicht in der Lage ist, erotische Erlebnisse zu haben“, er lacht schadenfroh, „kann sie auch keine mathematischen Entdeckungen machen. Kein Computer kann auch nur die kleinste Entdeckung machen. Er kann es nicht, völlig ausgeschlossen!“ Auf die Frage, von welchem der beiden Kuchen er ein Stück möchte, sagt er, nach kurzem Zögern: „Vom Gedeckten, da muss ich weniger kleckern“, und fährt im Gedankengang fort, ohne den Kuchen anzurühren: „Aber wie der Mensch oder der einzelne Mathematiker etwas entdeckt! Mathematiker rechnen ja so gut wie gar nicht – das ist eben ganz verschieden. Einige haben mal versucht, es zu beschreiben . . . Mathematiker müssen ganz besondere erotische Verhältnisse haben zu ihren Problemen – Novalis hat mal gesagt, nur Mathematiker können glücklich sein. Ähnliches sagte Gauß und auch Platon. Und Jacobi, der in Potsdam geborene, große Mathematiker, der sagte, ein Mathematiker braucht keine Rauschmittel, er ist wie ein Lotophage (Esser der Lotosfeige, die glückseliges Vergessen bewirkt, Griech. Mythologie, Anm. d.A.), sein größtes Erlebnis ist die Zahlentheorie. Wer einmal die Zahlentheorie betrieben hat, der kommt von der Zahlentheorie niemals mehr los. Der ist besessen von der Zahlentheorie. So wird es beschrieben, das Erlebnis.“ Auf den Einwurf, es sei doch eigentlich etwas Ähnliches wie Mystik, sagt er freudig: „Ja, der Weg ist rein mystisch, er ist ein Erlebnis, aber, im Gegensatz zur Mystik, ist es von jedem nachkontrollierbar. Eine mathematische Erkenntis ist nur dann eine mathematische Erkenntnis, wenn sie nachvollziehbar ist. Nur das ist die Wissenschaft. Außerdem ist natürlich auch die persönliche Erregung noch lange keine Garantie für die Qualität der Leistung. Man kann sogar sagen, dass viele Dinge, für die man sich ganz begeistert hat, sich hinterher als furchtbarer Unsinn herausgestellt haben. Aber nur der Phantast lässt seine pure Begeisterung auf die Menschheit los. Der Wissenschaftler, der ein Erlebnis hat, eine Offenbarung, der überprüft alles erst mal sorgfältig, und wenn er vernünftig ist, wird er sagen, das ist Quatsch! Und dann muss man eben sehen, warum es Quatsch ist.“

Auf die Bemerkung, dass anscheinend große Gelehrte und Denker zu Offenbarungen neigen, so Pascal und Descartes, sagt er: „Und Parmenides, der seine Offenbarungen ja durch Aletheia empfangen hat . . . Ich bin Physiker, theoretischer Physiker, Wissenschaftler, und die Griechen haben sie erfunden, die Wissenschaft, deshalb erzähle ich immer gerne, wo sie herkommt. Es hat mal einer gesagt, die Wissenschaft sei das Bemühen, den Text von Parmenides zu interpretieren. Also vom Parmenides-Text gibt es viele Übersetzungen – ich kenne fast ein Dutzend, keine ist mit der anderen identisch. Jede widerspricht teilweise der anderen. Auch das ist interessant, aber wenn ich Parmenides verstehen will, übersetzen will, dann muss ich wissen, was er meint und dazu muss ich die zeitgenössische Literatur kennen.“ Herr Treder nimmt ein Schlückchen Kaffee, lässt den Kuchen unberührt und fährt fort: „Der große Heraklit, er ist ja eine halbe Generation älter als sein Kritiker Parmenides, der lehrte noch, dass die Sonne im Westen versinkt – mit Zischen – und im Osten neu aufgeht. Fünfundzwanzig Jahre später lehrte Parmenides, die Erde ist eine Kugel, der Erdradius ist vernachlässigbar klein gegenüber dem Abstand zur Sonne, er erkannte, dass das Mondlicht reflektierendes Sonnenlicht sein muss und dass Abend- und Morgenstern ein und derselbe Planet Venus ist. Damit wurde Parmenides zum Begründer der exakten Naturwissenschaften . . . Und das alles liegt natürlich am Denken der Göttin, denn die Göttin denkt rein logisch und lässt keinen Widerspruch zu. Es ist die Göttin Aletheia, die Göttin der Wahrheit, eine griechische Göttin. Aletheia ist nur ihr Deckname gewesen, sie ist identisch mit Demeter. Aber Parmenides, als Myste der elefsinischen Mysterien, die der Demeter geweiht waren, durfte den Namen der Gottheit nicht gebrauchen, das war den Mysten verboten.“

„Die Göttin Aletheia, wie gesagt, die Göttin der Wahrheit, hat Parmenides alles offenbart – sie hat gesagt eins ist eins, und eins ist nicht zwei, und auch nicht drei, sondern nur eins. Und A ist A. Wer sagt, A sei nicht A, der ist ein Quatschkopf. Für Parmenides galt: Was die Göttin sagt, das ist wahr, weil sie es sagt. Und sie offenbarte ihm, dass der Kosmos an sich weder räumlich noch zeitlich ist, und dass das Sein unveränderlich und unteilbar ist. Aletheia sagte: Das All-einige Sein ist das alleinige Sein, das Eins-Ist ist eins. Und im zweiten Teil ihrer Offenbarungen spricht die Göttin von der ‚trüglichen Ordnung der menschlichen Schein-Meinungen‘ als einer Folge der ‚Doppelköpfigkeit‘ des Menschen. Und die einzig von Parmenides überlieferte Schrift, ein philosophisches Lehrgedicht, über die Natur, wie man es später nannte, enthält diese Offenbarungen der Göttin Aletheia.“

Der Gelehrte bekommt Kaffee nachgeschenkt, trinkt ein Schlückchen und fährt, den Kuchen wiederum ignorierend, fort: „Und man muss sagen, dass ohne Einsteins Relativitätstheorie und ohne die Ergebnisse der logischen und mathematischen Grundlagenforschung von Gödel und Weyl, die tatsächliche Bedeutung der Offenbarungen Aletheias für uns gar nicht nachvollziehbar gewesen wäre. Aletheias ‚kosmologisches Prinzip‘ der Selbstkonsistenz und Denknotwendigkeit der aktualen Welt ist die Arbeitshypothese der theoretischen Physik.“ Nach einem Schluck Kaffee fährt er fort: „Die Göttin existiert nicht, sie denkt das Sein. Sie erkennt es nicht, sie beeinflusst es nicht, sie denkt es. Das heißt, sie ist es. Bei IHR sind ‚Denken und Sein‘ dasselbe. Theologie erklärt die Göttin für gottlos. Aletheia war die große Muttergöttin Demeter – Parmenides war ja ein Anhänger des Mutterrechtes – und die Muttergottheit stand im hoffnungslosen Kampf gegen die olympischen Götter des Patriarchates. Zeitgleich mit dem Lehrgedicht von Parmenides entstand ja die Orestie des Aischylos, die den Sieg der patriarchalischen Ordnung des Olymp über die alten Gottheiten des Mutterrechtes verkündet.“ Wir möchten aus gegebenem Anlass noch einmal auf die „Doppelköpfe“ zurückkommen. Herr Treder sagt den wunderbaren Satz: „Alle Menschen sind Doppelköpfe, die einzige Möglichkeit, nicht doppelköpfig zu sein, ist die des autistischen Solipsismus (Sol.: phil. Meinung, die das subjektive Ich mit seinem Bewusstseinsinhalt für das einzig existente Seiende hält. Schopenhauer wünschte, die Vertreter des radikalen Solipsismus kämen allesamt ins Irrenhaus, Anm. d. A.), und nur der autistische Solipsist kann der Meinung sein, dass er als einziger existiert. Ansonsten steht der Mensch ja immer vor der Aufgabe, als transzendentales Subjekt, im Sinne von Kant, sich der Welt gegenüberzustellen . . .“ Nach einigen weiteren Ausführungen sagt er heiter: „Wir sind alle schlechte Kerle. Dumm, schlecht und übel riechend! Das hat man früher zu uns gesagt in der Schule“, erklärt er kichernd, „es war sozusagen ein didaktisches Mittel.“

Und weil das so ist, kommen wir noch einmal auf die anfangs erwähnte besondere Sorgfaltspflicht des Wissenschaftlers zurück, auf sein Verhältnis zur Wahrheit. Gebeten, das Kriterium der Wahrheit kurz zu definieren, sagt Herr Treder: „Dass die Wahrheit wahr ist, muss logisch in sich konsistent sein, die Voraussetzungen müssen klar angegeben werden, und, vor allen Dingen aber, jeder muss im Prinzip in der Lage sein, sie nachzuvollziehen. In der Wissenschaft darf man nicht schwindeln!“ Frau Henselmann wirft ein: „Aber das gibt es ja oft, dass in der Wissenschaft geschwindelt wird, beispielsweise um Forschungsgelder zu bekommen . . .“ Wir ergänzen: „Beispielsweise für Gravitationsschirme . . .“ Der Gelehrte ruft gestikulierend aus: „Kompletter Blödsinn ist das, die Schwerkraftschirme, reiner Unsinn!“ Dann entwickelt er die Sache amüsiert weiter: „Aber nehmen wir mal an, jemand gibt den Auftrag Gravitationsschirme zu erfinden und bietet 100 Milliarden Forschungsgelder, ja dann ist die Frage, würde ich da nein sagen? Ich würde vielleicht sagen, jawohl, aber ich brauche 200 Milliarden, das Problem ist äußerst kompliziert! Dann könnte man immer noch behaupten, man tue etwas Gutes, weil garantiert nichts Bösese dabei herauskommt und das Geld kann für andere militärische Zwecke nicht mehr ausgegeben werden. Aber das ist natürlich eine groteske Situation. Schrecklich ist, dass Wissenschaft durch diese Dinge oft aussieht wie Science Fiction. Und solche Ausstellungen, wie die, die da gerade läuft, ‚Sieben Hügel‘, die so tun, als hätten sie etwas mit Wissenschaft zu tun, mit denen verhält es sich genau so, das liegt alles im Bereich der Schaugeschäfte, das ist Jahrmarkt, Disney-Land.“ Herr Treder kommt wieder zurück auf die Wahrheitspflicht des Wissenschaftlers, und nennt ein Beispiel für die Notwendigkeit der ethischen Grundeinstellung: „Max Planck war ein ganz konsequenter Ethiker. Er hat gesagt, zwei Dinge dürfe man nicht tun als Wissenschaftler. Erstens: Niemals lügen – auch nicht sich selbst belügen –, und das zweite ist: Niemals etwas tun, was gegen die ethischen Prinzipien verstößt. Dass diese Ideale aber mit der heutigen Beschaffenheit der Welt nichts – oder kaum etwas – zu tun haben, ist auch klar.“

Der Gelehrte hält inne, trinkt ein Schlückchen Kaffee, wird des Kuchens gewahr und widmet sich ihm, nun, da die Arbeit getan ist, voller Hingabe. Zwischendurch beantwortet er die Frage, was eigentlich seine Eltern von Beruf gewesen seien: „Mein Vater war Beamter und meine Mutter war Sekretärin im Sekretariat von Stresemann.“ Wir wollen den Mönch in seiner Klause nicht länger stören, danken für alles und erheben uns zum Aufbruch. Er geleitet uns. Als wir den Gartenzwerg passieren, beantwortet er auch unsere letzte Frage, die nach seiner Beziehung zu Gartenzwergen: „Ich liebe sie, von früher Kindheit an. Ich konnte noch nicht sprechen, da sah ich einen stehen, in unserer kleinen Siedlung, in einem Vorgarten. Ich konnte ja nicht sprechen und sagte immer nur GWA-GWA. Und später bekam ich dann auch einen Gartenzwerg geschenkt als Kind, der hatte sogar eine kleine Karre. Von diesen älteren habe ich drei oder vier und dann noch so ein paar Weihnachtsmänner. Also ich lege großen Wert darauf, dass die Gartenzwerge nicht künstlerisch sind. Die müssen ganz schlicht sein und alt. Ich war immer der Ansicht, die Zwerge sind nie anders als alt gewesen. Sie haben einen weißen Bart. Zwerge werden nicht geboren, die sind DA.“