Plastikdoggen singen nicht

■ Uff, der Hurricane-Marathon in Scheeßel ist vorbei: In anderen Zeitungen lesen Sie über „Bush“ und „Moby“, exklusiv nur bei uns erfahren Sie alles über Rotz, Tannengrün und die Innovationen der Besucher

In Wirtschaftskreisen klagt man gerne über die mangelnde Innovationsfreudigkeit der Deutschen. Welch eklatantes Fehlurteil. Man nehme nur mal den ganz normalen Open-Air-Besucher. Angesichts eines strikten Flaschen- und Dosenverbots sieht er sich konfrontiert mit einem Problem: dem so genannten Bierdilemma. Zu dessen Lösung entwickelte er tausenderlei Verfahren. Meist wird Alkoholhaltiges in Icetea-Tetrapacks gefüllt: die so genannte klassisch-pragmatische Methode. Es konnten an diesem Wochenende in Scheeßel aber auch Varianten mit künstlerischem Anspruch beobachtet werden. Ein Junge nuckelte verzückt an einem Plastikschlauch: ein Katheterbeutel für Menschen mit Blaseninkontinenz, in jeder Apotheke angeblich für 95 Pfennige zu erwerben. Eine Gruppe prostete stolz mit Beck's-Dosen: Sie haben sie Tage zuvor auf dem Gelände vergraben, auch Sektflaschen, wie Friedhofsgräber. Auch im Gebüsch vor dem Eingang findet solche Lagerhaltung statt. Eine volle Martini-Flasche duckte sich bis zum späten Sonntagnachmittag unter einem Birkensprössling. Dann war sie weg. Ich war's nicht.

Rock–n–Sauf: Darin ist eigentlich schon der Wesenskern dieses Open-Airs/jedes Open-Airs präzise umrissen. Am grandiosesten widerspiegeln tat er sich in der Gruppe Giant Sand. Eine klitzekleine Plastik-Bulldogge sitzt auf dem rüttelnden Keyboard. Sein Kopf wippt im Rhythmus; bis der Keyboarder das Tier packt. Er hält es ans Mikro, doch es schweigt. Plastik-Bulldoggen schweigen immer. Sänger Howe Gelb dagegen redet. Und er redet. Außerdem redet er. Deshalb dauern die Pausen fast genauso lange wie die Stücke dazwischen: Gelb zeigt dem Publikum seine Sammlung an Taschenkassettenrekordern, spielt einige unpassende Bänder vor... Alles eine Schule des Wartens. Und gibt es etwas Hilfreicheres im Leben als kultiviert darauf warten zu können, auf das Leben? Doch wenn er singt, ist das Leben wie ein langer, ruhiger Fluss. Er hält seine Gitarre, wie ein Cowboy seine Gitarre eben hält: Bein auf Schemel, Gitarre auf Bein, Gitarrenhals senkrecht.

Ich persönlich fand dieses Festival auch sonst toll. Im Pressezelt hingegen war zu hören, dass „Moby“ toll war und „Live“ scheiße, oder dass „Live“ toll war und Therapy? scheiße, oder Therapy? genial und.... Auch hieß es, dass die Cranberries scheiße waren, weil sie sich genauso anhörten wie auf Platte – und warum soll man da noch zu einem Festival pilgern? Warum? Zum Beispiel, um sich vom Aussehen seiner Lieblingsmusiker überraschen zu lassen. Der weltentrückte Gesang der sphärischen Klangbastler von „Laika“ etwa entspingt keinem Satelliten, sondern dem Munde eines Mopses: sympathischen, blonden, weiblich. Oder Ani DiFranco: Da gehört eine sich lustvoll überschlagende, gewaltige Stimme, die Schnappatmen zum Gestaltungsprinzip macht, zu einer riesigen Gitarre; an deren Rücken klebt ein winziges Wesen, welches durch Schlabberklamotten und lila, rosa, hellblauen Rastalöckchen alles Notwendige unternimmt, um mehr wie ein Kobold zu wirken denn als Frau. Trotz frühem Auftritt verfiel die Menge ihrem bezaubernden Lächeln hemmungslos.

Von Hardcore-Veteran Henry Rollins heißt es, dass er immer halbnackt in schwarzen Unterhosen auftritt, auch auf den Eisbergen links von Grönland; erstens um der Welt sein Sonnentattoo am Rücken zu zeigen, zweitens um zu beweisen, dass selbst ergraute Selbstreinigungsfanatiker aussehen können wie eine Anabolikazüchtung. Bei unwirtlichen Temperaturen, die den verrückt-hendrixenden Gitarrero von „Macy Gray“ dazu bewegen, eine winterliche Lammfelljacke zu tragen, übt sich Rollins in seiner Lieblingsdisziplin: Härte; gegen sich und andere: Singen lernen wird er wohl nie mehr. Außerdem steht auf der großen Trommel „Search and Destroy“. Nicht weniger abgründig war „The Tea Party“. Allerdings kann deren charismatischer Frontmann Jeff Martin singen – und wie: alle Pearl-Jamisten und Kornisten müssen sich vor ihm verstecken. Da deutet sich ein Weitertreiben von Grunge an, doch noch; auch wegen des Industrial-artigen Keyboard-Einsatzes. Martin ist schwarz gekleidet. Und beim Thema Schwarz fällt mir eines der ältesten, mysteriösesten Festival-Phänomene ein: Am Abend hängt das Nasenrotz teerschwarz im Tempo. So als hätte man den ganzen Tag auf der Kühlerhaube eines italienischen Kleinlasters verbracht. Und beim Après-Haarewaschen findet man im Waschbecken eine braune Brühe wieder. Es gibt nur eine Erklärung: Landluft ist Umweltverschmutzung.

„Fink“-Sänger, der Bluesbarde, der mit schwarzem (!) Hemd zur braunen Lederjacke eine gewisse Freude am Stilbruch dokumentierte und in glücklichen Momenten wie Townes van Zandt ins Nirwana der einsamen Herzen entgleitet, war es, der in seinem ersten Lied alles Wesentliche über das Festival sagte: „Es sind viele Menschen“, da und dort und außerdem daneben. Bei Scheeßel waren es 35.000 und damit etwa 10.000 weniger als letztes Jahr. Vielleicht lag's daran, dass deutscher HipHop nur durch „Die Firma“ vertreten war. Deren Problem: Sie singen deutsch. Man versteht sie also. Ihre Marotte der unaufhörlichen Selbstanpreisung erzeugte im Gast bald überschwängliche Dankbarkeit gegenüber den Veranstaltern für ihre HipHop-Abstinenz. Stattdessen viele interessante Hybriden: der Gruft-Wave von Madrugada, der Industrial-Gruft von Project Pitchfork, alles top-gestylt mit silbernen Leibchen. Gomez dagegen dokumentieren in der Person von Ian Ball die tröstliche Weisheit, dass auch Menschen mit der Aura eines Behördenflurs ein tiefes Gefühl und eine ergreifende Stimme haben können. Mit zwei Schlagwerkern, vier Saitenkünstlern und zwei(einhalb) genialen Stimmen praktizieren sie die Bataille'sche Verschwendungstheorie. Nur Macy Gray kann das besser. 11 Musiker versprach das Presseinfo, 14 standen auf der Bühne, mit dem Ergebnis eines grundsoliden altmodischen Souls mit dezenten HipHop-Beigaben in Form eines Scratchers. Man trägt alles, vom Rastalook bis Scater-Outfit, die Kleiderordnung ist hier offen, doch es sind die Jungs, die die Instrumente bedienen und die Mädels, die die Backvocals übernehmen. Scheißwelt.

Noch viel gäbe es zu sagen über die superwitzigen Ansagen und schwerblütigen, viel geliebten, viel gehassten Liedtexte von Element of Crime, über die dämonische Krächz-Kultur der pinguinisch gekleideten Sandy Dillon, die als „weiblicher John Waits“ tituliert wird, über die Mutation der Bühne in einen lichtspritzenden Diamanten bei Nine Inch Nails. Beschränken wir uns aufs Wesentliche: Der Vorname von Toiletten muss nicht zwangsläufig Dixie lauten. Manche heißen auch Knollmann und sind tannengrün. bk