Die Sünde ist wie die Matrix

Die Baptistengemeinde in Wedding lockt Jugendliche mit Kinogottesdiensten in die Kirche. Keanu Reeves darf ballernd den Erlöser geben. Pastor Hendrik Kissel predigt bei Popcorn seine Filmexegese. Die Cineasten dürfen im Herbst wieder kommen

von PHILIPP GESSLER

Nein, das ist keine normale Kirche, das sieht man auf den ersten Blick. Das Wandgemälde um den Altarraum an der Stirnseite ist ein Panorama Berlins. Aber vor allem: mitten im Gotteshaus steht eine fünf Meter hohe Kletterwand samt Sicherungsseilen. Willkommen in der Baptistenkirche in Wedding!

Die evangelisch-freikirchliche Gemeinde ist schon häufig mit Rap-Gottesdiensten, Graffiti-Ausstellungen und Hockey-Turnieren im Gotteshaus unkonventionelle Wege gegangen – am Sonntagabend betrat sie wieder Neuland: Gezeigt wurde im Sakralraum der US-Film „Matrix“ mit Keanu Reeves. Ein Jungsfilm, passend besonders für Sciencefiction- und Computerfreaks ... und für Christen. Denn was hier abgeht, ist nicht nur eine Filmvorführung. Es ist eine Gottesdienst. Ein „Kino-Gottesdienst“.

Der Eintritt ist frei. Etwa 30 junge Leute haben den Weg in die geweihte Stätte gefunden. Es gibt Cola und Popcorn wie im richtigen Kino. Auf der Internet-Seite des Bezirks wurde Werbung für das „Experiment“ gemacht, wie Pastor Hendrik Kissel es nennt. Mit seinem kragenlosen schwarzen Jackett passt er gut zu den schwarz gekleideten Herrschaften auf dem Kinoplakat, das auf den Flyern für das Event wirbt.

Jetzt geht es los, das Popcorn ist gut. Ein Jugendlicher mit Zahnspange geht etwas ungelenk zum Klavier bei den beiden Diawänden und spielt die verpoppte Variation einer Beethoven-Komposition. Eine Esther, wie sie vorgestellt wird, klimpert etwas auf einem Synthesizer, während ein Gospelsong zugemischt wird. Pastor Kissel zitiert eine kurze Passage aus dem Brief des Paulus an die Epheser. Dann gibt Roman, ein junger Mann mit schwarzen Haaren, eine kurze Einführung zum Film, erwähnt vier Oscars, die der Streifen gewonnen hat.

Das Licht geht aus. Der Ton ist schlecht, der Videoprojektor etwas überfordert, doch die Geschichte packend: Geschildert wird die (wahrscheinliche) Rettung der Welt durch den Hacker Neo. Der muss entdecken, dass die ganze Menschheit von ihren eigenen Robotern, ausgestattet mit künstlicher Intelligenz, versklavt worden ist – ohne es zu wissen. Denn den Menschen, die den Computerwesen nur noch als Energiequelle dienen, wird in ihren Hirnen ein perfektes Computerprogramm eingespielt. Diese „Matrix“ lässt sie glauben, sie lebten noch ihr ganz normales Leben in der realen Welt.

Neo ist der „Erlöser“, der von „Trinity“ in diese Welt eingeführt wird. Es wimmelt in diesem Film nur von Sätzen wie „Du bist auserwählt“, „Du bist mein Erlöser“ und „Du suchst ihn“. Reeves macht sich gut als Messias – die Ballerei stört nicht wirklich. Zweimal wird der Film angehalten und vorgespult. Roman erzählt, was dazwischen geschah. Zensiert werden soll nichts, betont Pastor Kissel. Es gehe nur darum, etwas Zeit zu sparen. Die schönsten Action-Sequenzen bleiben tatsächlich drin – Sexszenen gibt es eh nicht im Film.

Sobald das Licht wieder angeht, verlassen drei Kinder arabischer Herkunft das Gotteshaus. Kissel zeigt auf dem Overhead-Projektor ein paar selbst gemalte Folien. Die Sünde sei wie die „Matrix“, erklärt er, sie hindere uns, zu unserem wahren Leben mit Gott zu kommen. Und wie im Film könne uns die Liebe retten. Dann spielt Esther noch ein wenig, dieses Mal wird „Sie ist nicht von dieser Welt“ des Schmuse-Rappers Xavier Naidoo gegeben.

Hannes geht normalerweise nicht in die Kirche – das nimmt man dem 23-Jährigen mit fast perfektem Slacker-Outfit ab. Auch als „bekennender Atheist“ habe ihm der Gottesdienst gefallen. Das sei keine „Marketing-Aktion“, sondern eine Anpassung der Kirche an die Moderne.

Dann sammeln ein paar Mädels die Popcornreste auf. Pastor Kissel ist zufrieden mit der Resonanz, auch wenn sonntags zum normalen Gottesdienst mehr Leute kommen, wie er betont. Immerhin laufe die Sache so gut an, dass man daraus eine Tradition machen werde. Im Herbst soll es wieder „Kino-Gottesdienste“ geben. Darunter auch „Das Leben des Brian“ von Monty Python. Eine Jesus-Satire.