Vor dem Sturm auf Berlin

Horst Steinert hat ein aufregendes Leben geführt. Der Höhepunkt: In den letzten Kriegstagen hat er den sowjetischen Truppen unter Nikolai Bersarin den Weg nach Berlin gezeigt. Eine Spurensuche

von PHILIPP GESSLER

Der mit dem Finger ist gut: Horst Steinert spricht die Kassiererin an der Tankstelle an. Eigentlich wollen wir nur fragen, wie man nach Bohnsdorf kommt, denn seine Wegbeschreibung hat schon wieder in die Irre geführt. Doch Horst, wie ihn so gut wie alle sofort nennen sollen, zeigt der netten Frau hinter der Kasse stattdessen seinen linken kleinen Finger, schlimm aufgerissen: Ob sie ein Pflaster habe, fragt er. Die Kassiererin ist entsetzt. Doch Horst fängt an zu lachen. War doch nur ein Witz! Der 82-Jährige streift sich den Plastikfinger von seinem gesunden – ein Partygag, mehr nicht. Horst freut sich. Er hat mal wieder die Lacher auf seiner Seite.

„Ich bin humoristisch geboren“, sagt Horst – und was er im Laufe dieses heißen Junitags über sein Leben erzählt, hört sich an wie die Geschichte von Baron Münchhausen. Dabei soll es eigentlich gar nicht so sehr um ihn gehen, sondern um Nikolai Bersarin. Der war der erste sowjetische Stadtkommandant von Berlin nach Eroberung der Stadt durch die Rote Armee in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945.

Bersarin soll nach dem Willen von SPD, PDS und Bündnisgrünen wieder die Ehrenbürgerschaft der Stadt erhalten. Sie war ihm aberkannt worden, nachdem er in Verdacht geraten war, als Militärbefehlshaber im Baltikum für die Deportation von 47.000 Menschen verantwortlich gewesen zu sein. Inzwischen hat sich gezeigt, dass dieser Verdacht falsch war. Bersarin ist wieder in der öffentlichen Diskussion. Und Horst will über ihn erzählen.

Dazu fahren wir nach Bohnsdorf am südöstlichen Rand Berlins. Endlich haben wir die Stelle gefunden, wo er den General 1945 getroffen hat. Es ist ein kleines Wäldchen an der S-Bahn Grünau: „Hier war früher eine Senke“, erzählt Horst. An dieser Stelle hätten die Sowjettruppen gelagert. Von hier habe er die russischen Soldaten unter Bersarin von Bohnsdorf nach Rudow geführt – an den deutschen Einheiten vorbei und bis zu der Stelle, wo die anderen sowjetischen Truppen standen. Damit war „der Sack zu“, sagt Horst – der Ring der sowjetischen Armee um Berlin war geschlossen. Das Schicksal des NS-Regimes und Hitlers war besiegelt.

Klar war Steinerts Tat gefährlich. Er musste sich durch die Frontlinie durchschlagen. Und es war Landesverrat. Warum hat der 27-Jährige dies damals getan?

Horst ist in einem kommunistischen Haushalt aufgewachsen. Sein Vater war ein Graf von Stempnakowski. Er diente als ein Rittmeister der kaiserlichen „Ziethen-Husaren“, einer traditionsreichen Kavallerietruppe mit dem Mythos, so tapfer wie Kosaren zu kämpfen. Doch gleichzeitig war Horsts Vater Kommunist und Mitglied des Spartakus-Bundes unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Als die Revolution in Russland wütete, wechselte er mit seiner Schwadron die Front und kämpfte mit seiner legendären Reitertruppe auf den Seiten der Roten. Er nahm auch einen bürgerlichen Namen an: Steinert. Seine Frau, die Tochter des ältesten SA-Mannes Berlins, gebar dem roten Grafen Zwillinge – im Taxi, wie Horst erzählt. Er war einer der zwei. Kurz nach der Geburt starb sein Bruder. Horst hat seine Mutter in Verdacht, ihn ermordet zu haben. Er will von seinem Vater gehört haben, dass sie auch versucht habe, ihn um die Ecke zu bringen. Seine Mutter, erzählt Horst, habe ihn als Säugling auf einem Kühlgestell vor dem Fenstersims ihrer Wohnung gelegt – in letzter Minute hat ihn sein Vater gefunden. Im Krankenhaus überlebte er nur knapp. Er hatte eine doppelseitige Lungenentzündung.

Sein Vater wurde KPD-Parteisekretär im roten Wedding im Norden Berlins. Horst selbst engagierte sich bei der kommunistischen Jugend. Beim so genannten Blutsonntag 1929, als Polizisten auf 1.-Mai-Demonstranten schossen, wurde Horst von einem Schuss am Bein verletzt. Über 30 Kommunisten starben dabei.

Mit der Machtübernahme Hitlers ging Horst auf Geheiß seiner Partei in die Hitlerjugend, wo er schnell Gruppenführer werden sollte. Horsts Auftrag war, die HJ zu unterwandern. Er sollte etwa nachts Plakate kleben, wenn sonst niemand unterwegs sein durfte. Das habe auch geklappt, sagt Horst, und erzählt nicht ohne Lust von seinem Aufstieg in der HJ.

In dieser Zeit entdeckte Horst sein Maltalent. Er erhielt Anfang der 30er-Jahre die Möglichkeit, als Werkstudent den Malkurs von Max Liebermann zu belegen. Gleichzeitig blieb er weiter aktiv als Leiter der illegalen kommunistischen Jugend von Neukölln.

Horst läuft durch den Wald in Bohnsdorf und erzählt von der Zeit damals. Dann muss er „einen Baum wässern“. Der Prostatakrebs eben, meint Horst nebenher.

Mitten in der NS-Zeit, 1935, organisierten seine Genossen und er in Kreuzberg eine Demonstration – gegen die Nazis. Von den etwa 100 Demonstranten wurden 14 als Rädelsführer verhaftet und vor Gericht gestellt – er stand ganz oben auf der Liste der Angeklagten.

Horst wurde zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er verbrachte die Haft in Cottbus und in Pommern und kehrte mit einer offenen Tuberkulose zurück. Der spätere Leibarzt Hitlers, Theodor Morell, behandelte ihn.

Horst wurde Lehrling und später Angestellter in einem Schädlingsbekämpfungsunternehmen – an den Giften, die er benutzte, erkrankte seine Frau schwer. Sie wurde querschnittsgelähmt. Es dauerte mehr als sieben Jahre, bis sie sich mit eiserner Disizplin wieder das Gehen beigebracht hatte. Im Krieg bekam Horst einen Einberufungsbescheid. Er sollte im Afrikakorps dienen, aber er war zu krank – so krank, dass er nicht Zug fahren konnte: Das Ruckeln der Waggons führte sofort zu einem Blutsturz.

In Bohnsdorf baute er sich mit seiner Frau ein einfaches Häuschen, das heute noch steht. Hier treffen wir auch seinen alten Freund und Nachbarn Horst Lützner. Er soll die Bersarin-Geschichte erzählen, die sie damals miteinander erlebt haben. Doch Lützner will nicht. Er lädt seinen alten Freund nicht einmal zu sich herein. Die beiden haben sich Jahre nicht gesehen. Und offenbar auch nicht mehr viel zu sagen.

In der Kriegszeit versteckten Horst und seine Frau eine Jüdin, Emmy Löwenthal. Die war blond und blauäugig, konnte deshalb als ausgebombte Bekannte ausgegeben werden. Ein Propst aus Kaulsdorf sammelte Essenmarken für die Versteckte. Außerdem, so Horst, habe er noch Ausweise gefälscht. „Als Grafiker konnte ich das doch“, sagt er. Die als Vorlage nötigen Originalpapiere hätten Prostituierte von ihren Freiern geklaut. Zusammen mit anderen, erzählt Steinert, habe er etwa 2.000 Juden das Leben gerettet.

Wir wollen noch bei Gertraude Koersten-Radtke vorbei – ob die noch hier lebt? Trudchen (71) ist eine alte Flamme von Horst – auf dem Tisch in ihrem Wohnzimmer liegt eine Bersarin-Biografie. Der war „einer der intelligentesten Menschen, die je gelebt haben“, schwärmt sie. Trudchen hatte sich mit ihrer Mutter Gertrud, ebenfalls überzeugte Kommunistin, jahrelang in einer Laube versteckt. Die Mutter kannte die Flaggensignale und hatte mit ihrer Hilfe die sowjetischen Truppen, die auf Spreewald-Booten kamen, über die Dahme geleitet. Trudchen meint, dass so einer wie Stalin viel Gutes getan hat. Horst schweigt dazu, was er selten tut. Für ihn sind Stalinisten „Scheißkerle“, wie er später sagt.

Am 21., 22. oder 23. April 1945 – so genau weiß das Horst nicht mehr – kam seine große Stunde, die Sache mit Bersarin. Horst musste erleben, wie pubertierende Jungen verheizt werden sollten, sah ihre Leichen an der Front. Er holte die versteckte Armbinde seines Rotfrontkämpferbundes aus einem Versteck und ging mit seinem Nachbarn Horst Lützner ohne weiße Fahne über die Frontlinie. Sie stießen zuerst auf einen sowjetischen Kapitän.

Der war erfreut, einen deutschen Kommunisten zu sehen – sie umarmten sich spontan. „Der Kapitän und ich haben wie kleine Kinder geweint“, hat er 1985 einer 15-Jährigen erzählt, die seine Geschichte für das DDR-Jugendmagazin neues leben zum 40. Jahrestages des Kriegsendes aufgeschrieben hat.

Der Kapitän führte Horst zu Bersarin. Der habe ihn an seinen Vater erinnerte, erzählt Horst, denn der General hatte in der gleichen Reitertruppe gedient. Horst führte die sowjetischen Einheiten durch Bohnsdorf – es hingen mehr rote als weiße Fahnen aus den Fenstern, erinnert sich Horst.

Für zehn Tage wurde er Bürgermeister des kleinen Örtchens am Stadtrand Berlins – bis ein ehemaliger KZ-Häftling die Geschäfte übernahm. Trudchen und Gertrud Radtke luden Bersarin zu einem Treffen mit ehemaligen Opfern des NS-Regimes ein. Doch der General kam nicht. Stattdessen erhielten die Radkes einen Anruf: Bersarin sei auf seinem Motorrad tödlich verunglückt.

Horst glaubt noch heute, dass es ein Attentat war. Bersarin, der die Berliner als Kommandant sofort wie hilfebedürftige Menschen behandelte, sei Stalin zu liberal gewesen.

Bei der Gründung des Arbeiter-und-Bauernstaates legte Horst einen furiosen Start hin – unter anderem mit der späteren Margot Honecker gründete er die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Das Sonnenemblem sei von ihm, erzählt er. Auch das Symbol der Ost-CDU, fügt er hinzu. Das erste, was die West-Christdemokraten nach der Wende gemacht hätten, sei, die Taube aus dem Emblem zu streichen – „abzuschießen“, sagt er.

Horst eckte an in der Stalinzeit. Er arbeitete als Grafiker und malte den Sowjetführer für ein Propagandaplakat realitätsgetreu mit einem Gesicht voller Pockennarben. Das gab Ärger mit der SED-Leitung. Beim Bau der Stalin-Allee, heute nach Karl Marx benannt, sollte Horst einen Arbeiter aus der Brigade der Lehrlinge malen. Er protestierte dagegen, dass diese viel weniger Lohn bekamen als die Arbeiter als Magdeburg. Am Aufstand am 17. Juni 1953 war er nicht beteiligt, aber 1954 trat er aus der Partei aus: Er sei einem Rauswurf aus der SED nur zuvorgekommen, sagt Horst.

Wegen seiner Verbindung zu Margot Honecker konnte er trotzdem in ihrem Volksbildungsministerium bis Anfang der 60er-Jahre arbeiten. Dann wechselte er zum Magistrat von Ost-Berlin, wo er bis zu seiner Pensionierung angestellt war – als Grafiker half er mit beim Malen des Gemäldes am „Haus des Lehrers“ am Alexanderplatz. Es ist eines der gelungeneren Beispiele der Kunst des Sozialistischen Realismus.

Dennoch hatte der Austritt aus der Partei für Horst unangenehme Folgen: Der „Ehrensold“ als Widerstandskämpfer gegen die Nazis wurde ihm aberkannt – das machte 1.400 Mark weniger im Monat. Bis zur Wende stritt er um seine Rehabilitierung – erst nach 1990 wurde er wieder als ehemaliger Widerstandskämpfer eingestuft.

Mittlerweile ist es Abend geworden. Es hat wenig Sinn, weiter mit Horst die Strecke abzufahren, die er damals mit Bersarin und seinen Truppen gegangen waren. Die Straßen verlaufen heute ganz anders.

Stattdessen fahren wir nach Köpenick. Dort hat Horst ein Treffen mit jungen Leuten in einem Jugendzentrum. Natürlich nennen sie ihn auch dort nur den Horst. Seit 1992 ist er Ehrenvorsitzender der linken Organisation „Jugend gegen Rassismus in Europa“ – voller Stolz zeigt er seinen Mitgliedsausweis, holt Fotos von seinen jugendlichen Freunden aus der Jackentasche und berichtet von einem europaweiten Treffen in Brüssel, wo Zehntausende gekommen seien.

Im Bezirk Treptow gehört Horst zu den Mitbegründern des Bündnisses gegen Rechts. Noch vor wenigen Tagen war er mit seinen jungen Leuten in Königs Wusterhausen bei einer Demonstration gegen einen Neonazi-Aufmarsch.

Horst hat schon mehrmals Drohanrufe von Nazis bekommen. Aber das kann ihn nicht erschrecken. Angst habe er noch nie gehabt, sagt Horst. Der Widerstand gegen die Rechten müsse intelligent sein, betont er: „Antifa heißt Angriff – aber nicht mit Steinen, sondern mit dem Kopf.“ Eben hatte er mit seinen Sprüchen noch eine große Runde unterhalten. Doch als er das sagt, ist er sehr ernst.