Raúls Potenzstörungen

Mit dem vergebenen Foulelfmeter des Real-Stars scheitert Spanien erneut bei einem großen Turnier. Und die Franzosen um Meister Zidane kennen nach dem 2:1-Sieg nur noch ein Ziel: den EM-Titel
aus Brügge BERND MÜLLENDER

Manchmal hat der Fußball eine strenge innere Logik – trotz aller Zufälligkeiten, die sein Dasein insgesamt und erst recht das Ergebnis eines Einzelmatches bestimmen. Es ist dieser mysteriöse spieleigene Sinn für perfekte Dramaturgie, die aus dem Nichts kommt und dann punktgenau passt. Beim Viertelfinale der Endspielanwärter Frankreich und Spanien traf es den Spanier Raúl. Weil der nicht traf.

Raúl Gonzales, Real Madrids Stürmerstar, von vielen Experten als Starkandidat für die gesamte EM gehandelt, hatte in letzter Minute den Foulelfmeter, der mit dem 2:2 alles hätte wenden können, elegant in die oberen Ränge des Brügger Jan Breydel-Stadions gezirkelt. Ein paar Augenblicke später war Spanien, wie so oft bei großen Turnieren, vorzeitig ausgeschieden.

Raúl stand da, ratlos, trostlos. Mit Vieira tauschte er das Trikot und hängte es sich als Sichtschutz über den Kopf. Die Hände wussten nicht, ob sie zusätzlich das Gesicht abschirmen sollten oder ersatzweise den Nacken stützen. Real-Teamkamerad Anelka kam und gab ihm einen aufmunternden Klaps – für den französichen Monsieur Cool eine Gefühlsexplosion. Auch der Franzose Karambeu, ebenfalls Real, herzte ihn kurz. Dann trottete Raúl wie hypnotisiert in die Katakomben.

Nein, es war nicht Raúls Spiel und schon gar nicht seine EM. Und es war nicht nur der Elfmeter. Schon während der 90 Minuten war er kaum aufgefallen, manche Selbstverständlichkeit ging ihm daneben, der Kopf danach oft hängend wie auch die Schultern. Und wenn er sich mal aufraffte, blieb er schnell im zentralen Bollwerk um Blanc und Desailly stecken oder lief dahin, wo der spektakulär unspektakuläre Deschamps nur aufgrund seiner Existenz Spinnennetze auszulegen vermag, die alle Wege blocken.

Es war Raúls 68. Saisonspiel, auch für einen 22-Jährigen ermüdend viel. Einmal hat er im Turnier getroffen, das schöne 1:0 gegen Slowenien. Einmal gelang ihm auch gegen Frankreich ein toller Schlenzer (den Barthez grandios meisterte). Beides zusammen war, neben einigen hübschen Szenen gegen Jugoslawien, schon die Hälfte seiner Turnierausbeute: In 360 gespielten Minuten hat Raúl ganze vier Mal das Tor anvisiert.

Man kann feststellen, das ist exakt einmal pro Spiel. Man kann auch sagen, da war selbst Bierhoff besser. Oder dass Hollands Patrick Kluivert genauso oft ins Tor traf, allein innerhalb von 30 Minuten gegen Jugoslawien. Doch auch jenseits aller hinkenden Vergleiche bleibt es eine erbärmliche Quote für einen, der zuvor in acht EM-Qualifikationsspielen zehnmal getroffen hatte und maßgeblich an Reals Champions-League-Gewinn beteiligt war.

Ganze zehn Mal ist Raúl laut Uefa-Statistik im gesamten Turnier gefoult worden. Kein Zeichen von besonderer Wendigkeit, einem gekonnten Entwischen des internationalen Verteidigergebeins, sondern klarer Beleg: Die EM lief an Reals Goldjungen fast komplett vorbei, egal ob er, wie auch gegen Frankreich, abwechselnd im vorderen Mittelfeld wirkte oder als Sturmspitze.

Der arme Raúl wusste: Hätte er die Verantwortung beim Elfmeter nicht übernommen (angeblich war er, so Trainer Camacho, nach Mendietas Auswechslung auch dafür vorgesehen), hätte er als Feigling gegolten, in Spanien ein besonders schweres Kapitalverbrechen. So war er der Versager. Fußball kennt perfekte Fallen. Wie ein gescheuchter Hase wurde Raúl nach dem Match von einem halben Dutzend Betreuern eilenden Schrittes als Letzter seines Teams zum Mannschaftsbus geleitet. Kein Kommentar. Adios.

Gestern erst sprach der Unglückliche mit der spanischen Presse: „Ich habe auf dem Platz geweint, in der Kabine und im Hotel. Es war ein Jammer.“ Und: „Ich war so sicher, dass der Ball reingeht.“ Kollege Michel Salgado ergänzte in landeseigenem Machismo-Sprech: „Wir müssen ihm dankbar sein, dass er die Eier hatte zu schießen.“ Klar: So wurden die huevos, respektive cojones der anderen geschont.

Die Franzosen hatten Raúls Potenzstörung schnell abgehakt und sprachen jetzt auch offiziell aus, was sie wollen: den Titel Europameister im Fußballspiel, sonst nichts. „Das Halbfinale war unser erstes Ziel“, sprach Angreifer Christophe Dugarry mit Überzeugung, aber es war und ist „nicht unser letztes“. Und über den kommenden Gegner: „Ja, die Portugiesen sind sehr stark, aber für uns müssen sie sich schon sehr anstrengen.“

Die Euro ist auf der Zielgeraden. Da juckt es die Franzosen kaum mehr, dass sie in den bisherigen Spielen merkwürdig lethargische Anfangsphasen mit erstaunlichen Defensivverwirrungen zeigten und jedes Mal Glück hatten, nicht früh in Rückstand zu geraten. Keiner weiß so recht, wie es dann um das Team steht. Andererseits: Immer wenn die Franzosen unter Druck stehen, wie in der ersten Halbzeit, folgen Geniestreiche immer anderer Leute. Diesmal nicht durch Thierry Henry, der kaum Szenen hatte, sondern halt durch Youri Djorkaeff mit seinem Kracher zum 2:1.

Meister Zinedine Zidane, erneut mit einem hinreißenden Auftritt und einem perfekten Freistoßtor, verglich France 2000 mit dem Weltmeister-Team vor zwei Jahren: „Ja, wir sind stärker als 98, auch weil wir mehr Erfahrung haben.“ Und über sich selbst: Ja, er fühle sich „noch stärker als 1998. Ich bin auf dem höchsten Level.“ Das braucht er auch morgen Abend in Brüssel. Portugals Figo, zweiter verbliebener Kandidat für den EM-Titel des Topstars, ist schließlich auf ähnlich abgehobenem Niveau.

Spanien: Cañizares - Salgado, Paco, Abelardo, Aranzábal - Mendieta (57. Urzaiz), Guardiola, Helguera (77. Gerard), Munitis (73. Etxeberria) - Raúl, Alfonso Frankreich: Barthez - Thuram, Blanc, Desailly, Lizarazu - Vieira, Deschamps - Djorkaeff, Zidane, Dugarry - Henry (82. Anelka) Zuschauer: 30 000 Tore: 0:1 Zidane (33.), 1:1 Mendieta (38./Foulelfmeter), 1:2 Djorkaeff (44.)

Zitat:„Ich habe auf dem Platz geweint, in der Kabine, im Hotel. Es war ein Jammer. Ich war so sicher, dass er reingeht.“ (Raúl)