Selbstverständlich angelsächsisch

Michael Ignatieff hat streitbare Essays in der politisch-kulturellen Tradition von Sigmund Freud und Eric J. Hobsbawm geschrieben. Sein Thema ist die Zusammenführung von Geschichte und Gegenwart in der Anthropologie des Kriegführens

von ANNETTE JANDER

Die Kunst des politischen Essays wird hierzulande gern vernachlässigt. Wir ziehen kurze Formen vor, bei denen die Autoren anonym bleiben, oder lange Bücher, die jeden Punkt im Einzelnen belegen. Publikationen wie Lettre International führen ein Nischendasein und werden nie die Breitenwirkung einer New York Review of Books erreichen. Der politische Essay erscheint vielen bei uns suspekt, pauschal und angreifbar, denn er ist eine sehr persönliche Form der Auseinandersetzung mit einem Thema und führt selten Beweise für eine Theorie an.

Ein Essayist besonderer Art ist der in England lebende Kanadier Michael Ignatieff: Er steht in der Tradition des politisch-kulturellen Schreibens von Freud über Hobsbawm und Adorno bis Slavenka Drakulić und Hans Magnus Enzensberger – dem einzigen zeitgenössischen deutschen Essayisten, der im angelsächsischen Ausland ernsthaft wahrgenommen wird. Ignatieffs Band „Die Zivilisierung des Krieges“ vereint fünf seiner zwischen 1995 und 1997 publizierten Essays. (Nur der erste zur „Ethik des Fernsehens“ ist von 1985 und seither vom Autor teilweise revidiert worden.) Der Historiker und Journalist beschreibt in diesen Aufsätzen das Beharren auf universale Menschenrechte in der Konfrontation mit einer postmodernen Kriegsführung, deren Grausamkeit im Verschwinden jeglichen „Ehrenkodex des Kriegers“ und dem „Narzissmus des kleinen Unterschieds“ wurzelt.

Man liest diese Essays, um sich Denkanstöße abzuholen, um sich in einen Dialog zu begeben, der allerdings nicht in Deutschland stattfindet. Wo ist der deutsche öffentliche Diskurs über die sich wandelnde Rolle des Roten Kreuzes in Konflikten, die „Verführungskraft moralischer Empörung“ oder die Aufarbeitung von Kriegsschuld in einem internationalen Vergleich? Mit angelsächsischer Selbstverständlichkeit betrachtet Ignatieff die Nürnberger Prozesse als Vorläufer der Offenlegung der Stasi-Akten und im Kontext der Kriegsverbrechertribunale in Den Haag und Arusha und der südafrikanischen Wahrheitskommission. Selbst wenn man dem Autor nicht überall folgen mag, so beschreibt er doch die jeweilige nationale Nabelschau aus der Vogelperspektive und neigt auch den Blick der Leser in andere Richtungen.

Die Zusammenführung von Geschichte und Gegenwart in der Anthropologie des Kriegführens ist das eigentliche Thema des ganzen Buches. An anderer Stelle hat er einmal geschrieben, dass wir nicht Gefangene der Geschichte sind. In diesem Band schreibt er eher, dass wir nicht Gefangene der Geschichte sein müssten, denn die Entwicklungen der letzten 10 Jahre, die hier kommentiert werden, beweisen, dass man Menschen überall zu Gefangenen der Geschichte machen kann und dass der Weg aus dieser Gefangenschaft keineswegs dem plötzlichen „Erwachen aus einem Albtraum“ ähnelt. Die erfolgreiche Verarbeitung einer Geschichte des Metzelns und des Verrats – ganz gleich ob sie in Ruanda, Burundi, Südafrika, dem auseinanderfallenden Jugoslawien oder in Deutschland stattgefunden hat – ist ein niemals endender Prozess, der von erneuten Eruptionen der Gewalt unterbrochen wird.

Optimismus kann man Ignatieff nicht vorwerfen. Seine Reportagen über die Arbeit des Roten Kreuzes in Afghanistan und einer Afrikareise von Butros Ghali 1995 werfen die Frage nach dem Sinn gut gemeinter Einsätze in Krisenregionen auf. „Es besteht eine moralische Unverbundenheit zwischen diesen neuen Kriegsherren und den liberal gesinnten Interventionisten, die unseren moralischen Einsatz vertreten. (...) Insbesondere viele Hilfswerke, darunter das Rote Kreuz, mussten feststellen, dass das Thema Menschenrechte in dieser Welt des Krieges wenig oder gar keine Wirkung mehr entfaltet. (...) Seit dem Erscheinen von Joseph Conrads ‚Herz der Finsternis‘ 1899 haben Reisende, aus den Gefahrenzonen der Welt zurückgekehrt, ihre Erlebnisse dazu genutzt, die liberalen Illusionen derjenigen zu geißeln, die in den Zonen der Sicherheit leben“, heißt es in der Einleitung.

Ignatieff reist und schwankt zwischen verblüffter Bewunderung für die Hartnäckigkeit des Roten Kreuzes und des stoischen UNO-Generalsekretärs Butros Ghali im Angesicht des eigenen, wiederholten Scheiterns und dem resignierten Akzeptieren der inneren Verworrenheit der Menschen: „Zumindest eines erreicht Gewalt: dass die Verhältnisse übersichtlich zu sein scheinen“, ist sein hilfloses, aber akkurates Fazit nach einem ermüdenden Gespräch über ethnische Unterschiede zwischen Kroaten und Serben – mit einem serbischen Soldaten, der dabei seine Zastovo-Maschinenpistole reinigt. „Die Idee der Versöhnung durch eine gemeinsame Wahrheit setzt voraus, dass es möglich ist, über die Vergangenheit zu einer gemeinsamen Wahrheit zu gelangen. Aber Wahrheit ist mit Identität assoziiert. Was man als wahr annimmt, hängt bis zu einem gewissen Grad davon ab, wer man selbst zu sein glaubt.“ So durften sich auch die DDR-BürgerInnen als kollektive Erben des kommunistischen Widerstands völlig losgelöst von Schuld- oder Schamgefühlen für die Nazigräuel definieren.

Als Autor, der sich den Luxus vieler Gedanken und langer Lektüre zu diesen Themen leisten kann, mag er sich den intellektuellen Weg durch das Dickicht des Nationalismus und Krieges am Ende des 20. Jahrhunderts bahnen, ganze Nationen haben es da schon schwerer. Zumal man sich ja nicht einmal mehr auf einen Nationenbegriff einigen will. Wo ethnische Unterschiede zur Vertreibung und Tötung ganzer Landbevölkerungen missbraucht werden, darf uns das Ethnische keine Kategorie sein. Unterschiede zwischen Menschen zu leugnen, bringt aber auch nicht weiter. Ignatieffs Essays sind allein schon deshalb lesenswert, weil sie keine Rezeptur vortragen, sondern uns herausfordern, kritisch die Funktion von Institutionen wie UNO und Internationales Komitee des Roten Kreuzes zu betrachten – und vor allem die eigenen moralischen „Impulse“ zu prüfen. Dass er dabei weder zu hoch ins Theoretische fliegt noch zu tief in Beispiele und eigene Anschauung versinkt, macht den Wert der politischen Essays aus.

Michael Ignatieff: „Die Zivilisierung des Krieges“. Rotbuch Verlag, Berlin 2000, 200 Seiten, 34 DM