84 Zeilen Aufmerksamkeit

Der Philosoph Hannes Böhringer hat ein Buch über Einfachheit in Kunst, Denken und Leben geschrieben

Ein klingelndes Telefon, eine zerschossene Fensterscheibe. Banknoten, Graffitigesichter. Die Dinge, die den Braunschweiger Philosophieprofessor Hannes Böhringer beim Nachdenken bewegen, sind klein, „nichts Besonderes, fast nichts“. Wie man aber Klarheit im Denken gerade durch solche Phänomene gewinnen kann, davon handeln seine sieben kurzen Essays, bei denen Kunstbetrachtung und philosophische Erkenntnis fließend ineinander übergehen.

„Auf der Suche nach Einfachheit“ trägt den Untertitel „Eine Poetik“. Damit meint es Böhringer ernst: Das künstlerische Hervorbringen im griechischen Sinn des Wortes „poiesis“ ist bei ihm als Wiederholung dessen gefasst, was in der Welt immer schon vorhanden ist. Nicht als Gegenstand, aber als Idee von Gegenständen, die sich eben allein durch sinnliche Anschauung vermittelt. Die künstlerische Gestaltungsfreiheit liegt nurmehr in unmerklichen Variationen des Immergleichen. Bei Platon war es der Tisch, den ein Handwerker ständig neu herstellt, ohne dafür eines konkreten Vorbildes zu bedürfen. Böhringer nimmt diese Ideenlehre wieder auf: Wie sieht das Verhältnis zu den Dingen in der Kunst des 20. Jahrhunderts aus?

Die Aufgabe der Kunst liegt für ihn im Sichtbarmachen von Erscheinungen, die so alltäglich geworden sind, dass man sie gar nicht mehr wahrnimmt. Wenn dann der Land-Art-Künstler Gordon Matta-Clark eine Fensterscheibe zerschießt, schärft er mit dieser Aktion den Blick auf den urbanen Verfall, der uns ständig im Stadtraum begegnet, aber erst in diesem Moment zu einem sichtbaren Ereignis wird. Das ist in der Tat ein „paradoxon“, wie Böhringer an anderer Stelle ironisch feststellt: Andy Warhol zeichnet eine Dollarnote, weil ihn nichts so sehr interessiert wie Geld. Damit bringt er ein Zeichen innerhalb des Kunstbetriebs in Umlauf, das außerhalb dieses Systems kaum noch aufmerksam betrachtet wird. Das „Nothing Special“ wird durch Warhols Transformation zu dem aufgewertet, was es ist – ein Wertsymbol aus der Wirklichkeit: „Gerade weil es nichts Besonderes ist, kann man alles Besondere mit ihm einhandeln.“

Solchermaßen funktionieren auch die fein konturierten Meditationen Böhringers wie Eventminiaturen. Eben noch wird man in die Beiläufigkeit von Fluxus-Happenings eingeführt, um dort schon im nächsten Satz die Differenz zwischen Kunst und Alltag aufgelöst zu finden. Denn das „Fast-Nichts“ der Erscheinung ist immer auch das „gewisse Etwas“, das überhaupt Aufmerksamkeit erzeugt. Und damit Denken. HF

Hannes Böhringer: „Auf der Suche nach Einfachheit“. Merve Verlag, Berlin 2000, 110 Seiten, 20 DM