Der Mensch ist enträtselt

Mondlandung, Erfindung des Rades – für die Entschlüsselung des Humangenoms ist den Forschern kein Superlativ zu groß

von WOLFGANG LÖHR

Für die an der Entzifferung des menschlichen Genoms beteiligten Wissenschaftler ist klar: Ein Jahrtausendwerk ist vollbracht. Gleich auf mehreren Pressekonferenzen, verteilt über die Kontinente, verkündeten gestern führende Mitarbeiter des Internationalen Human-Genome-Projektes (HUGO), dass sie jetzt eine „Arbeitsversion“ fertig gestellt haben, die fast vollständig die entzifferten Bausteine des menschlichen Erbguts enthalten. Damit seien die Orte von 97 Prozent des Humangenoms lokalisiert, sagten gestern Mittag die beiden deutschen Forscher Hans Lehrach und André Rosenthal in Berlin.

Für den Jenaer Professor Rosenthal gehört der jetzt vorgelegte Arbeitsentwurf zu den ganz großen Menschheitsleistungen und könne mit den physikalischen Entdeckungen der letzten dreihundert Jahre verglichen werden. Andere zogen Vergleiche zu der Erfindung des Rades oder verwiesen auf die erste Mondlandung. Der Guardian verglich die Entzifferung des menschlichen Genoms gar mit den Werken von Shakespeare, den Bildern von Rembrandt und der Musik von Wagner.

Über den Tag verteilt fanden weitere Pressekonferenzen in Japan, China, Großbritannien und Frankreich statt. Mit besonderer Spannung wurde jedoch die Pressekonferenz in Washington erwartet. Dort trat am späten Nachmittag mitteleuropäischer Zeit der Leiter des US-amerikanischen Genomprojektes, Francis Collins, vor die Öffentlichkeit, zusammen mit Craig Venter, dem Chef von Celera Genomics, der, so schien es lange Zeit, das mit öffentlichen Geldern finanzierte internationale Genomprojekt zu überholen drohte.

Die beiden Gruppen lieferten sich in den letzten Monaten einen erbitterten Wettkampf. Zwar gab es Anfang des Jahres noch Gespräche über eine Zusammenarbeit. Doch die Interessen der Kontrahenten lagen zu weit auseinander. Venter bestand darauf, dass seine Daten erst mit einer halbjährigen Verzögerung veröffentlicht werden. Er wollte diese Zeit nutzen, um wirtschaftlich interessante Genomsequenzen ausfindig zu machen und für sie ein Patent einzureichen. Das war für die HUGO-Forscher unannehmbar. Sie hatten sich schon vor einigen Jahren dazu verpflichtet, so Rosenthal, die Genomdaten unverzüglich, „innerhalb von 24 Stunden für jedermann frei zugänglich zur Verfügung zu stellen“. Vor zwei Wochen gab es jedoch erneut Annährungversuche zwischen den beiden Kontrahenten Venter und Collins. Ende letzter Woche wurde dann überraschend bekannt, dass Venter und Collins zeitgleich ihre Arbeitsergebnisse bekannt geben wollten. Doch bei der gemeinsamen Pressekonferenz im Weißen Haus klang das gestern Nachmittag schon wesentlich vorsichtiger: Erst im Herbst ist Celera bereit, seine Daten frei zugänglich zu machen. Auf einer anschließenden Konferenz, so gab US-Präsident Bill Clinton gemeinsam mit Venter und Collins bekannt, soll dann über das genaue weitere Vorgehen beraten werden.

„Früher oder später“, davon ist Rosenthal überzeugt, „wird es zu einer Zusammenarbeit kommen.“ Welche Pharmafirma wäre denn noch bereit, „Millionenbeträge auszugeben, um die Daten von Celera auswerten zu dürfen, wenn sie bei uns frei zugänglich sind“?

Offensichtlich ist aber auch, dass der Streit schädlich ist für die ganze Zunft der Humangenomforscher. An Venters Vorhaben entzündete sich schließlich der Streit um das Für und Wider der Patentierung von Genen erneut. Und noch ist für die Genomforscher die Gefahr nicht gebannt, dass die Patentgesetze strenger werden. Die öffentlich finanzierten Forscher sprechen sich nur gegen die Patentierung der Rohdaten aus. Ist die Funktion eines Gens bekannt und kann ein wirtschaftlicher oder medizinischer Nutzen genannt werden, sollen sie auch unter Patentschutz gestellt werden können, erläuterte Rosenthal, der neben seiner Professur in Jena auch noch für eine Schering-Tochter tätig ist, die sich mit menschlichen Krankheitsgenen beschäftigt.

Die Genomforscher hoffen, dass der Streit mit Venter schnell beigelegt wird. So könnten dann die beiden Datensätze zum Abgleich und zur Fehlersuche genutzt werden. Voraussichtlich im Jahr 2003, vielleicht sogar früher, soll das Genom komplett sequenziert vorliegen. Und dann fängt die Arbeit erst an, mit der Buchstabenabfolge allein ist noch nicht viel anzufangen. Denn wo sich die meisten der rund 40.000 Gene exakt befinden, ist noch nicht bekannt.