Spiel der Differenzen

Kasper ist schon lange nicht mehr: Figurentheater arbeitet heute mit emanzipierten Schauspielern und Objekten verschiedenster Art. In der Mehrdimensionalität reflektiert sich das Genre selbst

von HARTMUT KRUG

Die Spielfläche ist ein verkohltes Schlachtfeld voller Steine. Ein schweres Keuchen erfüllt den dunklen Raum. Aus der ersten Zuschauerreihe erheben sich weiß geschminkte Menschen, schräge Ledergürtel auf den fast nackten Körpern: Zu sehen sind Kämpfer, die zugleich Opfer des Trojanischen Krieges sind. Auf eine Drahtfigur wird ein rotes Tuch gehängt, Arme und Beine schlenkern hilflos. Eine Schauspielerin hält sich die Figur wie einen Schutzschild vor den eigenen Körper, das fragile Gebilde zugleich behütend und beseelend, wenn sie den Monolog der besiegten trojanischen Königin Hekabe spricht.

Das Puppentheater Dresden hat sich mit Ovids „Metamorphosen“ und der „Hekabe“ des Euripides an ein Antikenprojekt gewagt, mit dem es von der Zerbrechlichkeit des Guten erzählen will. Dabei werden weniger Puppen geführt oder vorgeführt als gespaltene menschliche Identitäten und deren schwierige Wahrnehmung im verfremdenden theatralen Vorgang ausgestellt. Zu sehen ist Gedankentheater, das in qualvoller epischer Langsamkeit von der grausamen Rache einer Königin erzählt, die von ihren 19 Kindern 18 an den Krieg verloren hat. Zu sehen ist mehrdimensionales Schauspieler-Puppen-Theater, das die verstörende Wirkung seiner Objekte zur ästhetischen Faszination und zur intellektuellen Herausforderung nutzt. Zu sehen ist aber auch Bildertheater, das sich ein wenig in sich selbst verliert.

All dies, wiewohl firmierend unter dem Gattungsbegriff Puppentheater, hat mit dessen landläufigem Verständnis nichts mehr zu tun. Bei der 4. Synergura, dem im zwei- bis dreijährigen Rhythmus in Erfurt stattfindenden Puppentheaterfestival, das vor allem eine Übersicht über die Entwicklung in Deutschland erlaubt, waren vielerlei Formen des Puppen-, Figuren-, Material- und Objekttheaters zu sehen. Dem Kasper konnte man hier nicht begegnen, wohl aber der hässlichen Tochter Frankensteins. Die führt der Australier Neville Tranter als fast lebensgroße Klappmaulpuppe vor, leiht ihr und Frankenstein sowie dem Monster als sichtbarer Puppenführer Arm und Stimme, während er zugleich als Schauspieler Frankensteins Assistenten gibt. So entstehen zwei Spielebenen, die sich überschneiden und zugleich einen Konkurrenzkampf zwischen Schauspieler und Puppen als Spiel im Spiel andeuten. Was heißt: Das Genre reflektiert sich im Spiel selber.

Im Puppentheater kommt zum Subjekt Puppenspieler das Objekt Puppe, das vom Puppenspieler erst zum Subjekt gemacht werden muss. Wobei es kaum noch Puppentheater gibt, bei denen sich die Spieler im Dunkeln verstecken: Statt eine homogene Welt der Illusionen vorzuführen, wird ganz offen der Vorgang der Belebung von Unbelebtem gezeigt. Damit tritt der Spieler als gleichberechtigter Konkurrent neben sein Spielmaterial: Der Puppenspieler hat sich zum Schauspieler emanzipiert.

Das vom Figurentheater genutzte Material ist divers. Das Stuttgarter Theater Wilde & Vogel animiert für seine „Nils Holgersson“-Version vielerlei Mittel: Da liegt eine winzige Handpuppe im Schalltrichter eines Blasinstrumentes und wird vom Luft- und Tonhauch des eingreifenden Musikanten belebt, da verschwinden die Darsteller zum Schattenspiel hinter großen Tüchern, die gerade noch eine Schneelandschaft auf großer Raumbühne waren, oder kommentieren ihr Spiel. Dieses Theater lebt, weil es sich im sinnlichen Spiel selbst belebt. Das ist, was „Synergura“ meint: „zusammenwirken“.

Während in den alten Bundesländern Puppentheater meist als freies Theater und als Theater von Einzelspielern existierte und existiert, gab es in der DDR mehrere große staatliche Ensembles (deren Nachwuchs vor allem vom Puppenspiel-Studiengang der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ kam). Einige haben auf dem Weg zum Schauspieler-Puppentheater das Letztere ganz hinter sich gelassen und sind beim reinen Performance-Theater gelandet; so die Gruppe aus Neubrandenburg, die Heiner Müllers „Umsiedlerin“ als brisantes Puppenspiel für die DDR erstaufführte. Andere, wie das Puppentheater aus Gera, das mit Peter Waschinskys legendärer „Kaspariade“ einst eine Art historischer und künstlerischer Bestandsaufnahme des Genres im Spiel vorstellte, kämpfen mittlerweile um ihre eigenständige Existenz. Das Berliner Puppentheater hat sein Ensemble längst verloren und existiert unter dem Namen Schaubude nur noch als (Gastspiel-)Spielstätte.

Die überlebenden Puppentheater aus Halle, Erfurt, Magdeburg, Chemnitz und Dresden aber präsentierten beim Erfurter „Synergura“-Festival allesamt ehrgeizige, wenn auch unterschiedlich gelungene Experimente. Dabei ist im modernen Figurentheater der Griff zu den großen Themen unübersehbar: neben Shakespeares „Richard III.“ versuchte man sich an Anouilhs komplizierter Groteske „Das Orchester“; das Puppentheater Halle zeigte neben Claudia Bauers fulminantem 90-minütigen „Faust“ Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ – ein wunderschönes Beispiel dafür, welch komplizierte Stoffe man mit lebensgroßen Puppen, die zugleich fast lebendig wie künstlich erscheinen, im Zusammenspiel mit Darstellern bewältigen kann, die als Schauspieler hinter ihre Puppen zurücktreten.

Figurentheater erobert sich immer größeren Raum auch auf „normalen“ Tanz- und Theaterfestivals. Die Braunschweiger Theaterformen, in diesem Jahr Teil der Expo, eröffneten mit indonesischem Schattenspiel, präsentierten eine Uraufführung der südafrikanischen Handspring Puppet Company und zeigen neben Peter Brook und Peter Zadek Figurentheater aus Israel, Portugal, Argentinien sowie gleich zwei Produktionen des viel gepriesenen Kanadiers Ronnie Burkett. Wer sich explizit über den Stand des internationalen Puppentheaters informieren will, kann dies derzeit in Magdeburg tun: Hier findet noch bis zum 2. Juli der XVIII. Weltkongress der Unima (der internationalen Vereinigung der Puppentheater) statt, der auch von einem Festival begleitet wird.