Faul müsste man sein

DIE NEUEN UTOPIEN (3): Nichtstun ist angeblich das Schönste der Welt, solange man nicht arbeitslos ist. Vor allem Leistungsträger träumen von der Muße – allen voran Guido Westerwelle

von ULRIKE HERRMANN

Ein schöner Mann. Am schönsten sind die langen, endlosen Beine. Lässig sitzt er da auf einem Dach, unter ihm Paris und der Spruch: „Heute mache ich, was ich am liebsten tue: Nichts.“ Gauloise.

Seit Jahren lächelt uns dieser Dreitagebart an; kein neuer Werbetrend hat ihn bisher von den Plakaten verdrängen können. Der hübsche Franzose scheint also bei den Rauchern anzukommen. Nein, Stopp, Irrtum. Nicht er hält die Blicke fest. Es ist der Text, der uns bannt. In grandioser Knappheit wird dort eine der zentralen Utopien des Abendlandes zusammengefasst – die Kunst des Müßiggangs.

Werbung spiegelt die Sehnsüchte einer Gesellschaft. Wie allgemein akzeptiert der Wunsch nach Muße ist, zeigt sich bestens daran, wer damit für sich werben will. Jüngst wurde Guido Westerwelle, der jung-dynamische Generalsekretär der FDP, von der Zeit gebeten, ganzseitig seinen Lebenstraum preiszugeben. Eine heikle Aufgabe. Die Selbstinszenierung soll ja ehrlich wirken, ohne Intimes zu verraten, soll Sympathie erzeugen, darf aber nicht langweilen, muss zukunftsweisend scheinen, ohne zu provozieren. Westerwelle entschied sich für den Traum der Muße. „Ohne Termine“ wolle er sich in der Welt umsehen, sich „treiben lassen“. Er möchte „lebensklüger“ werden; schließlich sei er eigentlich ein „emotionaler und bauchgesteuerter Mensch“, der sich im Alltag fragt: „Wo sind die Leidenschaften? Wo das Glück ...?“ Zumindest ein einziges Mal will er seiner „Rationalität“ entkommen, mit der er „kühl strategisch“ Ziele verfolge. Selbst wenn es ihn „irgendwann“ seine politische Laufbahn kostet. Wir Leser sind beeindruckt, ganz wie berechnet, dass dieses personifizierte Klischee des neoliberalen Senkrechtstarters am liebsten faul sein möchte. Auch Thilo Bode träumte kürzlich für die Traum-Rubrik der Zeit. Und auch für den internationalen Leiter von Greenpeace gibt es „nichts Schöneres als Nichtstun“. Um diese beiden Faulenzer im Geiste zu entdecken, genügte ein kurzes, müßiges Zeitungsblättern. Eine ernsthafte empirische Befragung würde aber sicher ergeben, dass bemerkenswert viele Leistungsträger dieser Gesellschaft vom Müßiggang träumen. Und vor allem: dass sie ungeheuer stolz auf diese Sehnsucht sind. So als sei sie ihr eigener, ganz kreativer Einfall.

Dies erscheint zunächst doppelt paradox. Paradox 1: Sind Leistungsträger nicht gerade dadurch definiert, dass sie nur Leistung kennen, schätzen, bringen, verkörpern – dass sie das Tetrapak der Leistung sind? Wie passt da das Selbstbild als Faulenzer hinein? Paradox 2: Wenn die Sehnsucht nach Muße so allgemein und so überwältigend ist, warum wird diesem Drang so selten nachgegeben?

Die Antwort ist ein drittes scheinbares Paradox: Der Traum von der Muße muss unbedingt Traum bleiben, damit er reale Folgen hat. Denn diese Sehnsucht ist heute ein Statussymbol. Die Sehnsucht wohlgemerkt, nicht die Muße. Dies unterscheidet sie von materiellen Statussymbolen. Beim Porsche etwa ist es genau anders herum – als Wunschtraum ist er sozial wertlos; er muss schon in der eigenen Garage stehen, um Anerkennung zu erheischen. Doch was der imitierte Rennwagen und das Lob der Faulheit gemeinsam haben: Sie funktionieren als Statussymbol, weil sie einen Mangel symbolisieren.

So wie sich nicht jeder einen Porsche gönnen kann, so darf sich auch nicht jeder das Lob auf die Faulheit leisten. Nicht weil die Muße so selten wäre. Nein, weil gut bezahlte Arbeit so rar ist. Wichtig ist das Signal der Wahl. Nur wer erwerbstätig ist, kann sich für die Faulheit frei entscheiden. Kann davon träumen – für alle anderen ist die Muße bitterer Zwang, gesellschaftlich verachtet.

Arbeitslose erfahren dies täglich. Von ihnen wird erwartet, dass sich ihr ganzes Leben um die Arbeit dreht – genauer: um ihre Beschaffung. Stellenanzeigen sind zu wälzen und Bewerbungen zu schreiben; das Arbeitsamt kontrolliert regelmäßig den Suchfleiß. Doch selbst bei größten Bewerbungsmühen müssen sich Arbeitslose täglich rechtfertigen, und sei es unterschwellig, dass sie sich im „Freizeitpark Deutschland“ (Helmut Kohl) ausruhen. Muße als solche erhebt nicht in gesellschaftlichen Rang – geadelt wird man erst durch den täglichen Stress, der die Faulheit zur Sehnsucht macht. Und so ist die unterschwellige Botschaft von Westerwelle gerade nicht, dass er eigentlich ein emotionsgeladener Herumtreiber ist. Der Subtext vermittelt das Gegenteil: Sehnsucht nach Muße bedeutet Leistung bedeutet Elite. Wehe, wenn sich Westerwelle wirklich länger absentieren würde. Dann müsste er eine literarisch wertvolle Autobiografie über seine Ausstiegserfahrungen verfassen oder einen Reiseratgeber für die Südsee veröffentlichen, um nicht zu scheitern. Kurz: Er müsste seine Muße mit einem Endprodukt rechtfertigen und damit wieder in Arbeit verwandeln.

Die Muße ist also eine eigenartige Utopie. Sie unterscheidet sich krass von allen anderen Menschheitshoffnungen wie etwa der weltweiten Friedensgesellschaft. Dort ist gemeint, was der Begriff sagt: Wir wollen wirklich keinen Krieg, wünschen uns Gewaltfreiheit. Nicht so bei der Muße: Wir streben sie höchstens stundenweise an. Das Synonym „Nichtstun“ bringt es auf den Punkt. Muße war und ist im Kapitalismus immer nur die Negation, der Gegensatz zum Tun. Die Arbeit ist der eigentliche Wert, der Maßstab der sozialen Anerkennung. Dass es einst anders herum war, wird im Lateinischen noch konserviert. Für die Römer war die Muße – „otium“ – der Leitbegriff. Arbeit nannten sie „negotium“, Nicht-Muße. Entsprechend zeichnete Beschäftigungslosigkeit die Oberschicht aus; Arbeit war Sklavensache.

Die bizarre Konsequenz unserer dominanten Arbeitsethik ist nun, dass wir inzwischen alle wie römische Senatoren leben – uns aber nicht so fühlen. Wir haben so viel Freizeit, wie sie früher nur die Oberschichten genießen konnten: Im statistischen Durchschnitt verbringen Deutsche nur noch etwa neun Prozent ihrer gesamten Lebenszeit mit Erwerbsarbeit; Tendenz weiter sinkend. Doch statt uns in der Muße zu schulen, wie dies einst selbstverständlich war – systematisch wurde der europäische Adel in diversen Hobbys ausgebildet wie Jagen, Reiten, Singen, Sticken, Dichten –, geht man im heutigen Deutschland lieber den umgekehrten Weg: Die Freizeit wird zur anstrengenden Arbeit umgedeutet. „Freizeitstress“ lautet dafür der paradoxe Begriff.

So ist die Utopie der Muße zwar längst Realität geworden – und muss trotzdem Sehnsucht bleiben. Als Sehnsucht bestätigt sie den Wert der Arbeit. Als Praxis würde sie ihn zerstören; nach Jahrhunderten der kapitalistischen Erziehung kann sich dies niemand vorstellen. Also wird uns der hübsche Gauloise-Franzose weiter müßig anlächeln. Und Westerwelle wird in jeder Talkshow werbewirksam gestehen können, dass er so gerne aussteigen würde.

Hinweise:Der Traum von der Muße muss Traum bleiben. Nur so funktioniert er als StatussymbolFreizeit wird zur anstrengenden Arbeit umgedeutet – zum neu erfundenen „Freizeitstress“