„Akten dürfen nicht vernichtet werden“

Detlef Merten, Professor für öffentliches Recht an der Hochschule in Speyer, findet die Vorgänge „äußerst merkwürdig“

taz: In der Regierungszeit von Helmut Kohl sollen im Kanzleramt umfassende Aktenvorgänge manipuliert worden, Daten gelöscht worden und massenweise Originaldokumente verschollen sein. Wie bewerten Sie das?

Detlef Merten: Grundsätzlich dürfen Akten nicht vernichtet werden. Vielmehr müssen sie eine gewisse Zeit aufbewahrt und später in Archive gebracht werden.

Wie lange müssen Akten aufgehoben werden?

Das ist unterschiedlich. Aber nach dreißig Jahren kommen sie, insbesondere wenn es sich um Vorgänge von zeithistorischer Bedeutung handelt, in die Archive.

Gibt es für eine Bundesregierung Ausnahmen, das heißt eine Rechtsgrundlage, wonach sie Akten vernichten darf?

Ich sehe keine. Amtliche Akten sind grundsätzlich aufzubewahren. Bei Regierungen würde ich eine Ausnahme zulassen, wenn parteipolitische Vorgänge mit amtlichen vermischt sind, zum Beispiel bei Koalitionsverhandlungen. In solchen Fällen könnte man die Schreiben, die sich auf parteipolitische Vorgänge beziehen, unkenntlich machen und sie in den Parteizentralen aufbewahren. Der amtliche Teil muss jedoch im Amt bleiben.

Halten Sie es für vorstellbar, dass mehr als 1,2 Millionen Blatt Akten aus Versehen abhanden kommen?

Nein. Das halte ich nicht für möglich.

Kennen Sie aus der Rechtsgeschichte ähnliche Fälle, in denen so viele Akten verschwunden sind?

Nein. Aber man muss wirklich unterscheiden, ob die Akten verloren gehen oder jemand vorsätzlich oder fahrlässig Akten vernichtet hat.

Muss eine Regierung auf jeden Fall immer alle Akten offen legen?

Nein. Es gibt durchaus Gründe, aus denen eine Regierung Akten unter Verschluss halten kann. Das gilt zum Beispiel, wenn der so genannte exekutive Eigenbereich der Regierung, also regierungsinterne Angelegenheiten, berührt werden. Aber auch in solchen Fällen dürfen Akten nicht vernichtet werden. Hier geht es lediglich um die Frage, ob Akten, die aufzubewahren sind, auch jedermann zugänglich gemacht werden müssen.

Wer ist verantwortlich, wenn Akten in einer öffentlichen Verwaltung vorsätzlich vernichtet werden: der ausführende Sachbearbeiter oder der Vorgesetzte?

Grundsätzlich ist der verantwortlich, dem die Aktenführung obliegt.

Wer ist das im Kanzleramt? Der Kanzleramtsminister?

Wahrscheinlich nicht er persönlich, sondern der jeweilige Sachbearbeiter, der die Akten führt. Man muss also untersuchen, wer für die Aktenführung zuständig war. Allerdings wird man hoch geheime Unterlagen zweckmäßigerweise im Büro des Ministers oder des Amtschefs aufbewahren.

Inwieweit entzieht sich eine Regierung der parlamentarischen Kontrolle, wenn Akten vernichtet oder so falsch einsortiert werden, dass ein Unkundiger sie nicht mehr finden kann?

Ich meine, das ist zunächst kein Problem parlamentarischer Verantwortlichkeit. Denn die Regierung hat ja dem Parlament – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – auf alles Auskunft zu geben. Es ist mehr eine Frage der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Staat als Ganzem. Denn im Prinzip muss jede Regierung darauf achten, dass die nachfolgende Regierung in alles eingeweiht ist.

Sie sind Professor des öffentlichen Rechts. Was schoss Ihnen durch den Kopf, als Sie von den Ergebnissen der Hirsch-Ermittlung gehört haben?

Um es vorsichtig zu formulieren: Es ist äußerst merkwürdig. Wenn das alles so zutrifft, würde ich gegen die Beamten disziplinarrechtlich vorgehen.

INTERVIEW: KARIN NINK