Rechtsmedizin wird ausgedünnt

Aus Kostengründen sollen in Nordrhein-Westfalen gleich mehrere rechtsmedizinische Universitätsinstitute geschlossen werden. Das wird nicht ohne Folgen für die Aufklärungsquote von Gewaltverbrechen bleiben, warnen die Rechtsmediziner

von HEIKE HAARHOFF

„Die Wahrheit zu Tage fördern“ ist das Motto der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin im September in Essen. Doch deren Präsidenten, Professor Bernd Brinkmann, sorgt derzeit weniger die Vorbereitung der viertägigen Konferenz. Was ihn umtreibt, ist der Verdacht, dass die Rechtsmedizin geradewegs aufs Abstellgleis geschoben werden soll: Allein in Nordrhein-Westfalen droht vier von sechs rechtsmedizinischen Instituten an Universitäten das Aus.

In Aachen wird der Lehrstuhl bereits im kommenden Wintersemester nicht mehr besetzt sein. Essen, Düsseldorf, und Bonn sollen ebenfalls aus Kostengründen dichtgemacht werden. Nur Köln und Münster bleiben erhalten.

Ein Plan, der weitreichendere Konsequenzen hätte als den Verlust von rund 40 wissenschaftlichen und 130 nichtwissenschaftlichen Arbeitsplätzen: „Wenn die Rechtsmedizin so drastisch reduziert wird, dann wird sich das negativ auswirken auf die Aufklärungsquote von Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Körperverletzung“, warnt Rechtsmedizinerpräsident Brinkmann. Und das ausgerechnet im bevölkerungsreichsten Bundesland. Das rangiert laut polizeilicher Kriminalstatistik, gemessen an Einwohnerzahl und Verbrechenshäufigkeit, im Ländervergleich zwar „nur“ an neunter Stelle. In absoluten Zahlen aber finden hier die meisten Straftaten statt. „Nicht hinnehmbar“, erklären übereinstimmend Staatsanwälte, Richter und selbst der Düsseldorfer SPD-Justizminister. Doch das zuständige Wissenschaftsministerium wiegelt ab: „Es gibt keine konkreten Schließungspläne“, beteuert NRW-Ministeriumssprecher Harald Wellbrock. Seine Ministerin Gabriele Behler (SPD) gar ließ er per Pressemitteilung verkünden, anders lautende Meldungen seien „unsinnig und falsch“.

Kosten sparen

Jetzt aber ist der „Unsinn“ von höchster Stelle zur bitteren Wahrheit erklärt worden. In einem Brief an den Personalratsvorsitzenden der Uni-Klinik Aachen bestätigt der Chef der Staatskanzlei des Landes NRW, dass die Landesregierung Ende 1998 eine Kommission beauftragt habe, „die Fächer an den medizinischen Fakultäten einer kritischen Analyse zu unterziehen“. Weiter heißt es in dem Schreiben, das der taz vorliegt: „Die Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, dass in NRW von den sechs rechtsmedizinischen Instituten an medizinischen Fakultäten für Forschung und Lehre allenfalls zwei bis drei aufrechterhalten werden sollten.“ Begründung: „Soweit diese Institute Dienstleistungen für die Justiz erbringen, war das in der Vergangenheit nicht kostendeckend. Diese Bereiche belasten den Etat für Forschung und Lehre und können angesichts der finanziellen Situation der öffentlichen Haushalte und dem dringenden Bedarf an Ausbildungskapazitäten nicht weiter erhalten bleiben.“ Seitdem windet sich das Wissenschaftsministerium: Vermutlich handele es sich um eine „Einzelmeinung“ eines Kommissionsmitglieds, der die Staatskanzlei da aufgesessen sei. Doch der zuständige Referatsleiter in der Staatskanzlei widerspricht: „Wir dokumentieren nur die Politik der Landesregierung.“ In den Brief seien „Hinweise aufgenommen worden, die das Wissenschaftsministerium uns gegeben hat“.

Unterdessen rätseln die rechtsmedizinischen Institute, wer die „Dienstleistungen für die Justiz“, also Obduktionen von Leichen, Gutachten über Todesursachen und Untersuchungen von Gewaltopfern, künftig übernehmen soll. Denn klar ist: Wird der Lehrstuhl eingespart, dann verschwindet auch kurze Zeit später das Institut für Rechtsmedizin. „Das hat uns das Wissenschaftsministerium schon im vorigen Sommer zu verstehen gegeben“, sagt Detlef Klimpe, Leitender Verwaltungsdirektor an der TH Aachen. Die Rechtsmedizin habe „nur als wissenschaftliche Einrichtung eine Daseinsberechtigung, nicht aber als Dienstleistungsbereich“.

Eine alarmierende Entwicklung, die eine Revolution des Rechtsgutachtersystems der gesamten Republik nach sich ziehen könnte. Nicht nur, dass ein medizinischer Fachbereich weitestgehend abgewickelt würde, in dem Deutschland ausnahmsweise im internationalen wissenschaftlichen Vergleich, so ein Universitäts-Ranking der renommierten Fachzeitschrift International Journal of Legal Medicine, einen Spitzenplatz belegt: Deutsche Rechtsmediziner sind und waren an der Untersuchung von Massengräbern in Bosnien und im Kosovo beteiligt. Sie wurden wegen ihrer Fachkompetenz in Georgien zu Rate gezogen, als der dortige Expräsident Gamsarchurdia unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Sie schalten sich ein, wenn hierzulande Innenminister erklären, abgelehnte Asylbewerber seien bei der Abschiebung plötzlich und unerwartet gestorben. Häufig ersparen ihre Untersuchungen vergewaltigten Frauen die Aussage vor Gericht und damit das Wiedersehen mit dem Täter. Und: Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern sind Rechtsmediziner in Deutschland – weil sie an Universitäten und nicht an privatwirtschaftlichen Instituten oder direkt den Justizbehörden unterstellt tätig sind – als Sachverständige unabhängig von ihren Auftraggebern. „Anders als in Großbritannien oder den USA gibt es hierzulande keine Gefälligkeitsgutachten für den Meistbietenden“, sagt Brinkmann. Das werde sich ändern, sollten die Etats gekürzt, die Uni-Institute aufgelöst werden und die privaten Nachfolger gewinnbringend arbeiten müssen. Denn die Obduktion von Leichen ist immer ein Verlustgeschäft – Tote haben keinen Krankenschein. Brinkmann: „Die Menschenwürde rangiert hier äquivalent zur Warzenbehandlung.“

Keine Ausbildung mehr?

Andere Kollegen wie der Rechtsmediziner Peter Freudenstein von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf warnen, „dass viele Fälle künftig unerkannt durchs Sieb fallen werden, wenn der Ausbildungsstandard sinkt“. Rechtsmedizin ist Pflichtfach im Medizinstudium, „aber wie“, fragt Freudenstein, „soll ich den Studierenden das Unterscheiden vom natürlichen und nichtnatürlichen Tod beibringen, wenn ich keine Toten mehr habe?“ Rund 900.000 Menschen sterben pro Jahr in Deutschland, zehn Prozent davon eines nicht natürlichen Todes. Allein jedes der sechs nordrhein-westfälischen Institute führt jährlich zwischen 400 und 600 Obduktionen durch. Zum Teil muss sehr schnell reagiert werden; sobald der Leichenverwesungsprozess eingesetzt hat, wird die Spurensicherung schwierig. „Wenn wir aber künftig stundenlang durchs Land kutschieren sollen, um zum Tatort zu kommen, dann ist das erstens teuer, und zweitens kommen wir wahrscheinlich häufig zu spät“, sagt Freudenstein.

Drei bis vier Millionen Mark Kosten verursacht ein rechtsmedizinisches Institut in Deutschland pro Jahr. Werden die vier Institute in Aachen, Düsseldorf, Essen und Bonn geschlossen, würden rund rund 15 Millionen Mark eingespart. Angesichts der 150 Millionen, die insgesamt als Sparvolumen an den medizinischen Fakultäten in NRW im Gespräch sind, kein großer Wurf. Dafür aber einer, der auf geringen Widerstand stößt: Misshandelte Kinder, vergewaltigte Frauen, geschlagene Alte und traumatisierte Kriegsopfer gehören gemeinhin nicht zu der Patientengruppe, die mit Sprechchören zur Landesregierung zieht, um ihren Unmut kundzutun. Und die Toten erst recht nicht.