Leben mit hundert kleinen Wenden

Fleischermeister Klaus Gottschlich (59) war zu DDR-Zeiten gut im Geschäft. Sein Luxus waren Ferien im Interhotel an der Ostsee und ein gebrauchter Mercedes, den er aus Rücksicht auf die Kunden aber meist in der Garage ließ

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Zwei Millionen Mark Jahresumsatz machte Klaus Gottschlich bis zur Wende. Sitzt man im Büro des Fleischermeisters in der Prenzlauer Allee im gleichnamigen Berliner Stadtteil, sucht man Reichtum jedoch vergebens. Zu sehen sind DDR-Möbel, die andernorts längst ausrangiert worden sind. Glanz verbreitet nur eine schmale Goldkette, die er um den Hals trägt.

Der 59-Jährige ist Fleischermeister in der fünften Generation. Während seine Vorfahren gegen Krieg und Inflation zu kämpfen hatten, musste er sich in der sozialistischen Planwirtschaft behaupten. Er hatte Glück im Unglück. Mitte der Sechzigerjahre passierte etwas, was er heute „eine der hundert kleinen Wenden“ nennt. Die DDR-Regierung merkte, dass sich der Sozialismus nicht mit leerem Magen aufbauen ließ. Deshalb bot ihm der Rat des Stadtbezirks gleich beim ersten Gespräch eine Fleischerei in der Prenzlauer Allee Nummer 219 an, die er noch heute hat. Am 15. März 1965 unterschrieb er den Kaufvertrag, drei Tage später war Eröffnung. Als Gottschlich die Rollos hochzog, war er perplex: „Eine Riesenschlange, der Wahnsinn!“ Schon am nächsten Tag hat er den Herrschaften vom Kombinat gesagt, dass er mehr Fleisch braucht. Bekam er bei den ersten drei Einkäufen noch so viel, wie er bezahlen konnte, galt für den Jungmeister dann aber, was für alle galt: Die erlaubte Fleischquote durfte nicht überschritten werden.

Doch Gottschlich wollte und konnte den im staatlichen Handel gängigen Spruch „Geht nicht, gibt’s nicht“ nicht akzeptieren. Dafür musste er nichts Illegales machen. Das enge staatliche Korsett bot pfiffigen Leuten genug Schlupflöcher. Gottschlich fand sie: Der Fleischermeister begann, HO-Verkaufsstellen zu beliefern. „Ich habe halbe Tiere gekriegt und wäre ein schlechter Geschäftsmann, wenn nicht was für meinen Laden rausgesprungen wäre“, erzählt er augenzwinkernd. Eine weitere Quelle fand er in den Exportschlachthöfen außerhalb Berlins, wo er immer wieder Überhänge kaufen konnte. Wie er da rankam? „Wie das so ist, lernte ich jemanden kennen.“ Allein im ersten Dreivierteljahr verdreifachte er den Umsatz.

Für einen Fleischermeister sieht Gottschlich eigentlich viel zu schlank aus. „Ich bin ein Hektiker“, erklärt er und wirkt doch ganz gemütlich, wenn er in flottem Tempo und sehr charmant schildert, wie er sich aus dem sozialistischen Zwangskorsett zu befreien wusste. Hört man ihm zu, meint man, die mit Familienrezepten hergestellte Fleischwurst oder Hausmacherfettdarmschlackwurst zu riechen. Gottschlich erzählt gern von damals. Kein Wunder. Was er erreicht hat, verdankt er seiner Arbeit und Findigkeit. Er war jung, wollte vorwärts kommen. Und: „Meine Eltern bläuten mir ein, immer besser zu sein als die Konkurrenz.“ Gottschlich war besser als die staatliche Handelsorganisation (HO).

Ein Jahr nach der Eröffnung sollte der Fleischer zwangspausieren. Das Haus samt Laden wurde saniert. Er wusste, dass das lange dauern konnte, pachtete für die Zwischenzeit zusätzlich einen alten HO-Laden in einer unbeleuchteten Seitenstraße, brachte auf eigene Kosten DEFA-Filmscheinwerfer an und tauchte die Straße in gleißendes Licht. Das Ergebnis war filmreif: „Es ging los wie der Teufel.“ Vierzehn Monate später zog Gottschlich mit seinen Schweinehälften und Bierschinken wieder zurück in das vom Staat sanierte Geschäft. Die Miete betrug weiterhin 242 Mark pro Monat. Mit einem Kredit über 40.000 Mark kaufte er moderne Maschinen. Die Zinsen in Höhe von einem Prozent zahlte er „aus der Hosentasche“.

Nicht umsonst wurde er für „die besten Wurstwaren Ostberlins“ ausgezeichnet. Vater Staat verlieh dem Privatmann ohne Parteibuch sogar die Verdienstmedaille. Als man ihm daraufhin vorschreiben wollte, nur noch drei Wochen im Jahr Urlaub zu machen, zeigte er sich unbeeindruckt. „Denen hab ich was gehustet.“ Auch die Bitte von Parteigenossen, doch endlich in die SED zu gehen, wehrte Gottschlich ab. „Als Fleischer kann ich dem Staat besser dienen“, sagte er und saß damit einfach am längeren Hebel.

Bis zum Mauerfall hatte Gottschlich einen Jahresumsatz von zwei Millionen Mark – und das bei Preisen von vierzehn Mark für das Kilo Rinderfilet oder Pfennigbeträgen für hundert Gramm Wurst. Doch richtig reich ist er nicht geworden. Zum einen stiegen die Steuern, zum anderen floss ein gut Teil seines Geldes in die Taschen anderer Handwerker: hier Trinkgelder, um mehr Ware vom Fleischkombinat zu ergattern, dort Trinkgelder, wenn im Betrieb etwas zu reparieren war. Aber er brachte es immerhin zu einem „hohen Lebensstandard“: kleines Grundstück, viele Urlaube, einige Autos. Klaus Gottschlich und seine Frau Anne-Marie, gelernte Fleischverkäuferin, leisteten es sich, im Interhotel Neptun an der Ostsee auszuspannen. „Es spielte keine Rolle, ob das Zimmer fünzig oder achtzig Mark kostete“, erinnert sich der Fleischermeister. Ein Anruf beim Direktor, und er bekam ein Zimmer in dem stets ausgebuchten Hotel. „Fleisch war knapp, da kannte man Leute, die nicht an der Theke anstanden.“ Auch bei der Wohnungseinrichtung wurde nicht gespart. Die für Normalsterbliche nicht lieferbare Schrankwand „Karat“ stand bei Gottschlichs – ebenfalls nach einem Anruf. Was er wollte, bekam er. Sein Reichtum waren seine Kontakte.

Zehn Jahre vor dem Mauerfall erfüllte sich Gottschlich einen Jugendtraum: Von einem Westberliner, der in den Osten übersiedelte, kaufte er einen weißen Mercedes – für 40.000 DDR-Mark. Es hätte auch ein Volvo sein können. Doch da hätte jeder den Preis gewusst: 42.000 DDR-Mark. Beim Mercedes mussten die Leute rätseln. Der Genuss am Westschlitten hielt sich in Grenzen: Um keinen Neid zu wecken, parkte Gottschlich ihn nie vor seinem Geschäft. Meistens stand er in der Garage. Und fuhr Gottschlich Mercedes, dann nur mit dunkler Sonnenbrille. Aber: „Das Auto musste sein, irgendwas brauchte man, wenn man die Schnauze voll hatte.“

Den Mercedes hat er schon lange nicht mehr. Jetzt fährt er einen gebrauchten Japaner. Statt ins Hotel Neptun, wo das Doppelzimmer mittlerweile 380 Mark kostet, fährt Gottschlich nach Fuerteventura. Dabei lief nach der Wende nicht alles glatt: Erst blieb er auf gehamsterten Gewürzen und Därmen hocken, die im Westen billiger waren; dann wurde die Prenzlauer Allee Baustelle, und viele Kunden blieben weg. Heute ist er mit dem Umsatz „halbwegs zufrieden“. Stolz ist er darauf, dass noch immer Stammkunden kommen, die längst in andere Bezirke gezogen sind.

Weil die Zeiten der Luftsprünge angesichts einer Karpatensalami vorbei sind, hat Gottschlich sein Sortiment erweitert: Neben Ökofleisch aus dem Sauerland bietet er einen Plattenservice, Spanferkel und selbst Fischplatten an. Am meisten zu schaffen macht ihm die Konkurrenz der großen Einkaufszentren und Pizzalieferungen rund um die Uhr. „Früher gingen die Leute auf Nahrungssuche, jetzt wird ihnen alles hinterhergeworfen.“ Um dagegenzuhalten, setzt Gottschlich auf Handwerkstradition und guten Service. Und hofft, dass er den Siebenhunderttausendmarkkredit in fünf Jahren abbezahlt hat. Dabei hilft ihm sein Sohn, der demnächst Chef wird. Die intakte Familie ist für Vater Gottschlich nach wie vor das Salz in der Wurst. „Was nützt mir eine Million, wenn meine Frau fremdgeht?“, fragt er und meint das nicht als Witz.

BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA, 36, Reporterin in der taz-Berlinredaktion, bezahlte vom ersten Westgeld Kino und Süßigkeiten