Liebe auf Grundeis

Ehepaare verlieren sich, Affen finden sich im Menschen wieder, und Jan Fabre experimentiert mit Nutella: Die Hannoveraner „Theaterformen“ setzen auf Weitläufigkeit wie das „Theater der Welt“

von JÜRGEN BERGER

Dass sie keinen Mut hat, kann man Marie Zimmermann nicht vorwerfen. Mit den Hannoveraner „Theaterformen“ hat sie innerhalb der bisher eher Event-seligen Expo für eine konkrete Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Theater gesorgt und mit der Bandbreite der eingeladenen Produktionen von Australien über Südafrika bis Argentinien schier das nächste „Theater der Welt“ vorweggenommen. Jetzt gegen Ende ragte vor allem die Londoner Royal-Court-Uraufführung von Martin Crimps „Das Land“ noch einmal heraus.

Schlagartig bekannt wurde der 41-jährige Crimp bei uns mit „Angriffe auf Anne“. Die Parallelen im neuen Stück sind offensichtlich: Wieder geht die Handlung vom Mysterium einer jungen Frau aus. Und wieder ziehen sich die Figuren so lange die Häute ihres falschen Lebens vom Leib, bis am Ende nichts mehr von ihnen übrig zu sein scheint. Wirkte seine unfassbare Anne allerdings noch, als habe sie zahlreiche Spiegel um sich gestellt und betrachte die unterschiedlichen Projektionen ihrer selbst, ist Crimp jetzt einen Schritt zurückgegangen.

Als wolle er an die Tradition des bürgerlichen Familiendramas à la Ibsen anknüpfen, wirkt „Das Land“, und als gönne er Corinne und Richard, beide 40, Urlaub von der knüppelharten Postmoderne. Er ist Arzt, sie die Mutter seiner Kinder. Will sie einen Kuss, sagt er, er habe ihr doch bereits einen gegeben. Am Ende scheint alles überstanden und die 25-jährige Rebecca wieder aus dem Haus verschwunden zu sein, in dem das Ehepaar so tut, als hätte es sein Glück an der ländlich frischen Luft gefunden. Warum Richard die junge Geschichtsstudentin mit in seine vorgetäuschte Familienidylle genommen hat, weiß er selbst nicht. Vielleicht hat er Drogen genommen und wusste nicht mehr, was er tat. Wer da allerdings welches Spiel treibt, hält Crimp souverän in der Schwebe. „Was, wenn ich den Rest meines Lebens damit verbringen muss, Liebe vorzutäuschen“, fragt Corinne am Ende und weiß bereits, dass sie sich den Rest ihres Lebens mit einer Liebe auf Grundeis zufrieden geben wird.

Die deutsche Erstaufführung von „Das Land“ besorgt Dieter Giesing Anfang nächsten Jahres in Bochum und man kann sich schon jetzt etwas um die Darstellerin der Corinne sorgen, die gegen die Vorgabe von Juliet Stevenson anzukommen hat. Stevenson, ein Star der englischen Szene, entwirft das Bild einer verletzten, trotzdem aber die Contenance wahrenden Frau. Sie ist eine Corinne, die in kurzen Momenten zu erkennen gibt, wie viel Kraft es kostet, trotz der Anstrengung einen spielerischen Eindruck zu vermitteln. Stark wird Katie Mitchells Inszenierung auch, wenn sich die beiden Frauen gegenüberstehen und Indira Varma als Rebecca die Überheblichkeit der jungen Frau spielt, die noch auf den biologischen Faktor bauen kann.

Mit der Biologie allerdings ist das so eine Sache, denkt man an die blätterlosen Bäumchen, die über dem Landhaus des gestrandeten Ehepaares hängen und wie ein ironischer Kommentar auf der Künstlichkeit dessen wirken, was nie natürlich war: Die Liebe, die sich zu Beginn der Theaterformen eine außergewöhnliche Schneise in die heutige mitteleuropäische Wirklichkeit bahnte. Auch in „Chimp Project“ der inzwischen berühmten Johannesburger Handspring Puppet Company geht es um eine Dreiecksgeschichte, in der die Engländerin Sonja bemerken muss, dass der von ihr geliebte Herr Tadashi ein Verhältnis mit ihrer Ziehtochter Lisa hat.

Tadashi könnte die obskure Führerfigur einer afrikanischen Berfreiungsbewegung sein, während Ziehtochter Lisa eindeutig ein Schimpansenmädchen und das Ganze eine Parabel auf den Zivilisationsschock ist, ausgelöst durch das Aufeinandertreffen afrikanischer Mythen und europäischer Rationalität.

Das Schimpansengirl Lisa kann sich dank Sonjas Erziehung in Zeichensprache unterhalten und da die sodomitische Liaison eine Leibesfrucht zur Folge hat, ist das Schimpansenbaby das erste seiner Art mit angeborener Zeichensprache. Kontakte unterschiedlicher Zivilisationen hintelassen unwiderrufliche Spuren, lautet der Kommentar zur Kolonial- und Apartheidsgeschichte Südafrikas. Die Stärke der Handspring Puppet Company liegt darin, dass sie komplizierte Geschichten auf sehr einfache Art erzählt und Adrian Kohlers wundersame Puppenfiguren eine enorme erzählerische Kraft entfalten.

Von der wundersam erzählerischen Kraft eines Crossover-Abends hat wohl auch Jan Fabre geträumt als er sich mit „As long as the world needs a warrior’s soul“ in die eigens auf dem Expo-Gelände installierte Theaterhalle wagte. Am Anfang der Produktion allerdings stand kein Expo-Bummel, sondern ein Besuch bei Aldi – und die Frage, was man mit Mehl, Eiern, Nutella und Ketschup so alles auf Solistenkörper anrichten kann.