die stimme der kritik
: Betr.: Nichtfußballgucken als Antriebskraft der Literatur

Herr, lass es endlich Sonntagabend werden!

Es gibt ja immer noch das Gerücht, dass es im Literaturbetrieb asketisch zugeht, freudlos, blutleer, alle Bedürfnisse rein der Sache untergeordnet. Das Gerücht stimmt. Wer etwa weiß, zu was für einer Fußballbegeisterung Rainer Moritz, der Chef des Verlags Hoffmann und Campe, fähig ist, und dann bedenkt, dass er Mittwoch keineswegs das Halbfinalspiel Frankreich–Portugal ansah, sondern auf dem Eröffnungsempfang der Klagenfurter Literaturtage herumstand, weiß, wie hart in der deutschsprachigen Literaturlandschaft gearbeitet wird: aufopferungsvoll für das Wort, die Bücher, die Autoren.

Dass man bei so viel Selbstaufopferung zumindest beim Büffet mächtig zulangt, versteht sich von selbst. Und dass dann am Donnerstag doch eigentlich alle Teilnehmer des Ingeborg Bachmann Preises das Spiel Holland–Italien ansahen – Dichter, Kritiker, Agenten und sonstige –, widerlegt das Gerücht keineswegs. Zu viel Entsagung täte der Sache auch nicht gut. Außerdem gab es Donnerstag kein Büffet. Im Moment warten in Klagenfurt alle auf das Finale: Sonntag um elf Uhr das des Vorlesewettbewerbs, Sonntag abend das der Euro. Dann werden die Fouls – literarische oder nicht literarische – geahndet, und die Gewinner und Verlierer werden feststehen. Bis dahin kann man über das Verhältnis von Fußball, Entsagung und Literatur nachdenken. Und zu dem Ergebnis kommen, dass hier ein ebenso unbearbeitetes wie hochspannendes Thema vor liegt. Denn da der sublimierte Nichtsex als Antriebskraft der Literaturproduktion ausfällt – seit Freud hat sich an der Sexfront doch einiges geändert –, muss wohl das sublimierte Nichtfußballgucken an seine Stelle treten. Wenn das so ist, dann ist in nächster Zeit große Literatur zu erwarten: Wer kann sich den deutschen Fußball derzeit schon anschauen?

Ein Kritiker überragt wie stets natürlich wieder alle anderen, auch im Nichtfußballgucken. Marcel Reich-Ranicki soll sogar während der Weltmeisterschaftsendspiele 1954, 1974 sowie auch 1990 weitergelesen haben. Überliefert ist die geschichtsträchtige Antwort, die er Frank Schirrmacher gab, als dieser ihn fragte, wo er sich das Finale anschaue: „Fußball? Mein Lieber, mit wie viel Büchern spielt man das?“ – Herr, es ist Zeit, lass endlich Sonntagabend werden. TOBIAS MEINER