„Ich war oft sehr einsam“

Interview JENS KÖNIG

taz: Joschka Fischer ist auf dem Grünen-Parteitag vor einer Woche zum ersten Mal in ein Parteiamt gewählt worden. Trotzdem wirkt er oft lustlos und scheint von seiner Partei genervt. Wollen Sie ihm einen kleinen Tip geben?

Gregor Gysi: Nein, ich mische mich in die Angelegenheit anderer Leute nur ungern ein. Und anderer Parteien schon gar nicht.

Fischer könnte Ihren Rat eventuell gebrauchen.

Ich wüsste nicht, warum.

Vielleicht überlegt er, alles hinzuschmeißen.

Das kann ich mir bei ihm nicht vorstellen. Er ist sehr ehrgeizig, viel ehrgeiziger als ich. Außerdem hat er eine Verpflichtung als Außenminister und Abgeordneter übernommen, da schmeißt man nicht einfach alles hin.

Ach ja? Und Sie?

Ich schmeiße gar nichts hin. Ich trete zur nächsten regulären Wahl des PDS-Fraktionschefs im Herbst nicht mehr an, bleibe aber bis 2002 Bundestagsabgeordneter. Das ist kein Rücktritt – auf diesen Unterschied lege ich Wert.

Sie haben Ihren Rückzug vor drei Monaten angekündigt. Fühlen Sie sich schon befreit?

Ich habe die Hoffnung darauf. Im Moment lastet noch eine große Verantwortung auf mir. In der Übergangssituation, in der sich die PDS auch durch mich befindet, bin ich viel stärker gefordert als in den Monaten davor. Aber ab Herbst werde ich viele Dinge freier entscheiden können.

Sie haben mal gesagt, dass Sie vor lauter Politik schon freizeitunfähig sind. Lernen Sie wieder, was man mit seiner Zeit alles so anstellen kann?

Ich bin dabei. Während meines letzten Urlaubs war ich schon viel ruhiger als sonst. Ich habe die Tage nicht wie früher als Termin erledigt.

Was sagt eigentlich Ihre Tochter dazu, dass Sie jetzt öfter zu Hause sind?

Noch bin ich es ja nicht, und deshalb habe ich ihr von meiner Entscheidung auch noch nichts gesagt. Meine Tochter ist jetzt vier – wie soll ich ihr da erklären, dass ich in ein paar Monaten mehr Zeit für sie haben werde? Ich erzähle es ihr, wenn es so weit ist.

Haben Sie Ihrer Tochter gegenüber ein schlechtes Gewissen?

Natürlich. Ich habe viel zu wenig Zeit für sie.

Viele Väter, die wenig zu Hause sind, verlernen das Spielen mit ihren Kindern. Sie auch?

Nein, so weit ist es zum Glück noch nicht. Aber ich kenne das Gefühl, mit meiner Tochter zu spielen und mit meinen Gedanken bei irgendeiner PDS-Vorstandssitzung zu sein. Das ist genauso schlimm. Kinder merken das sofort.

Nicht nur Joschka Fischer und Sie sind erschöpft von der Politik. Auch Lothar Bisky hört auf, und Oskar Lafontaine hat schon alles hingeschmissen. Sind die Politiker politikverdrossen?

Das sind sie dann, wenn sie mit falschen Erwartungen in die Politik gehen. Politiker überschätzen oft ihre Möglichkeiten und organisieren sich so ihre Enttäuschungen selbst. Als ich 1989 Vorsitzender der SED/PDS wurde, bestand meine Aufgabe zunächst genau im Gegenteil: den beachtlichen Einfluss, den meine Partei noch hatte, und die großen Möglichkeiten, über die sie noch verfügte, zurückzudrängen und zu begrenzen. Als ich 1990 in den gesamtdeutschen Bundestag einzog, war ich unerwünscht, ein Außenseiter. Ich konnte also nur wenig enttäuscht werden, weil ich nie davon ausgegangen bin, dort viel ausrichten zu können.

Ich meinte mit der Frage nicht, warum Politiker enttäuscht, sondern warum sie so müde, so erschöpft, so ausgezehrt sind.

Die Politik ist das Reich des Immergleichen. Alles wiederholt sich. Sie lesen immerzu die gleichen Unterlagen und halten ständig ähnliche Reden. Nach zehn Jahren Bundestag wird man dort nicht mehr überrascht. Es sind nur noch Kleinigkeiten, die die Routine durchbrechen. Wenn Sie wie ich über zwölf Wochen Wahlkampf machen, mit bis zu fünf Kundgebungen an einem Tag, dann kommt irgendwann der Punkt, an dem Sie nicht mehr wissen, in welcher Stadt Sie gerade sind und worüber Sie eigentlich reden.

Aber am Ende haben Sie vielleicht Erfolg. Entschädigt Sie das nicht für vieles?

Zustimmung ist tatsächlich ein Erfolgserlebnis, und Politik ist auch nicht nur frustrierend. Aber was passiert denn am Wahlabend, wenn Sie die erlösenden 5,1 Prozent oder mehr erreicht haben und alles von Ihnen abfällt? Nichts. Alle sitzen herum, egal ob von CDU, SPD oder PDS, und keiner kann sich richtig freuen. Das ist das wirklich Brutale an der Politik. Ich würde gern am nächsten Tag ausschlafen, schön essen gehen, vielleicht mit Freunden ein Bierchen trinken, ein bisschen feiern. Aber nein, am Morgen nach der Wahl tagt der Parteivorstand, alle gucken, als hätte gerade eine Bombe eingeschlagen. Sie beraten irgendwelche Papiere mit einem Ernst, als hinge davon der Weltfrieden ab. Du musst aufpassen, dass du ja kein falsches Wort sagst. Anschließend ist Pressekonferenz, und du musst auf jede Frage antworten. Was ist das eigentlich für ein Beruf, in dem man über drei Monate für ein Ziel arbeitet und sich dann nicht einmal einen Tag gönnt, um den Erfolg zu feiern?

Hans-Magnus Enzensberger behauptete schon vor Jahren in einem Essay, dass es an der Zeit sei, vom Elend der Politiker zu sprechen, statt sie zu beschimpfen. Er schrieb: „Der Eintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuss des Todes.“

Ich stelle immer wieder fest, dass Politiker länger leben als andere. Außerdem werden sie fast nie krank. Das ist ein Phänomen. Es muss etwas mit den häufigen Adrenalinstößen zu tun haben.

Enzensberger meinte das mit dem „Abschied vom Leben“ metaphorisch.

Ich weiß, ich weiß. Ein kleiner Scherz am Rande wird doch noch erlaubt sein.

Wie ist das nun mit dem „Kuss des Todes“?

In der Politik gibst du die Souveränität über dich auf, du verfügst nicht mehr über dich: nicht über dein öffentliches Bild, nicht über dein Image, nicht über deine Zeit. Mir ist das an dem Tag bewusst geworden, als ich meinen Terminkalender nicht mehr selbst bestimmen konnte. Der Terminkalender war einmal mein Heiligtum. Irgendwann 1990 war Schluss damit. Plötzlich merkst du, du gehörst nicht mehr dir, weil du nicht mehr über deine Zeit verfügen kannst. Das ist das Zerstörerische an dem Beruf. Daraus entsteht die Sehnsucht, die Souveränität über sich selbst wiederzuerlangen.

Sind Politiker Popstars wie Schauspieler, Musiker oder Profi-Fußballer?

Begrenzt. Wir stehen wie sie unter ständiger Beobachtung der Öffentlichkeit. Weniger wir selbst, sondern die Medien bestimmen, wann, wie und womit wir in die Öffentlichkeit gelangen. Wir werden gehetzt und ständig von uns selbst weggetrieben. Wir können uns diesem Druck aber auch nicht entziehen. Wir sind auf die Öffentlichkeit angewiesen, sonst können wir keine erfolgreiche Politik machen. Aber Leistung und Zustimmung sind schwerer messbar als bei den anderen.

Viele Politiker brauchen das Scheinwerferlicht aber auch, weil sie eitel sind.

Man muss geradezu eitel sein, sonst kann man die Öffentlichkeit ja nicht einmal ein bisschen genießen.

Warum beschweren Sie sich dann über die Medien?

Der Journalismus lebt nicht nur davon, ein kritisches Verhältnis zur Politik zu haben, sondern auch davon, eine Antihaltung der Bevölkerung gegenüber der Politik zu bedienen. Daraus entsteht bei Politikern eine gewisse Politikverdrossenheit. Jeder von uns hat doch auch das Gefühl, verkannt zu werden. Das mag bei dem einen Politiker mehr stimmen, bei dem anderen weniger, aber das Gefühl bleibt. Die meisten Menschen können sich selbst leiden, sie finden sich normal und in Ordnung – aber bei Politikern stimmt dieses Selbstbild fast nie mit dem Bild überein, das die Medien von ihnen zeichnen.

Vielleicht liegt das aber auch an dem Bild, das Politiker gern von sich selbst produzieren.

Das mag sein, aber die Schuldfrage ist nicht wichtig. Politische Journalisten und Politiker sind zwei Berufsgruppen, die aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig benutzen. Sie mögen sich, dann aber auch wieder nicht. Sie ermöglichen sich gegenseitig die Arbeit und erschweren sie sich zugleich. Wissen Sie, was das Erstaunlichste an der Symbiose ist? Dass nur ganz wenige Journalisten in die Politik wechseln und nur ganz wenige Politiker in den Journalismus.

Wie erklären Sie sich das?

Beide wissen so viel voneinander, dass sie keine Lust haben, den Job des anderen zu machen. Die Journalisten wissen ganz genau, dass du als Politiker irgendwann auf immer mehr Leute triffst, selbst in der eigenen Partei, die das glauben, was über dich in den Medien steht. Und die Journalisten kennen die Antwort auf die Frage, was du gegen dieses Medienbild tun kannst.

Sie können so gut wie gar nichts tun.

Dir bleibt nur eines: Entweder du bedienst das Bild, oder du ziehst dich aus der Politik zurück. Mir ist in der PDS gelegentlich unterstellt worden, ich machte das alles nur, um irgendwann Minister zu werden. Wie soll ich beweisen, dass ich nicht der Typ bin, der solche Posten anstrebt? Mir bleibt nur der Rückzug. Dann muss man mir glauben.

Warum reden Politiker so selten offen über sich?

Weil sie ihre wahre Gefühlslage nicht zeigen dürfen. Sie müssen immer so tun, als ob ihnen das alles nichts ausmacht. Politiker sind gezwungen, sich zu verstellen. Ich hätte gern darüber geredet, wie sehr mich die Beschimpfungen und Angriffe im Bundestag verletzt haben. Aber ich habe mir immer gesagt: Lass dir nichts anmerken, sonst steigern sich deine Gegner noch. Ich würde im Bundestag gern mal ans Rednerpult treten und sagen: Schenken wir uns meine Rede, das haben Sie alles schon hundertmal gehört. Lassen Sie uns lieber in eine Kneipe gehen, in Ruhe darüber reden, und vielleicht fällt uns dabei eine vernünftige Lösung ein. Wenn ich darüber nachdenke, warum ich das nicht sage, fällt mir auf, wie absurd die Politik oft ist.

Und Sie stecken mittendrin.

Ja, aber das eigentlich Gefährliche ist nicht, diese Art von Spiel mitzumachen, sondern nicht mehr zu merken, dass man es mitmacht.

Ist das nicht schizophren: Politik zu machen und gleichzeitig Distanz zu ihr zu halten?

Ich weiß nicht. Ich habe versucht, beides unter einen Hut zu bringen. Was denken Sie: Ist es mir gelungen?

Früher hatten Sie mehr Selbstdistanz. In den letzten Jahren hat Sie die Politik aufgefressen.

Es gab sicherlich Momente, in denen ich das schon nicht mehr gemerkt habe. Aber ich bilde mir ein, immer auch Abstand zur Politik gehalten zu haben.

Das hat man Ihnen am Ende nicht mehr angesehen.

Das liegt vielleicht daran, dass ich alles mit Leidenschaft betreibe. Ich war ein leidenschaftlicher Anwalt und bin ein leidenschaftlicher Politiker. Wer mich bei meiner Arbeit beobachtet, muss glauben, dass ich niemals davon lassen könnte. Aber ich kann. Ich mag keine endgültigen Sachen. Die Endgültigkeit einer Entscheidung hindert mich daran, sie zu treffen.

Warum haben Sie dann nicht schon früher mit der Politik aufgehört?

1997 habe ich es ernsthaft versucht. Ich wollte Schluss machen. Dann haben mir alle gesagt, von mir hänge ab, ob die PDS bei der Wahl 1998 in den Bundestag kommt. Das war eine schwere Last für mich. Dazu kam mein Ehrgeiz, noch ein Ziel mit der PDS zu erreichen: den Fraktionsstatus im Bundestag. Als wir dann mit unserer Fraktion in den Bundestag einzogen und ich merkte, die PDS wird jetzt anders behandelt, die anderen Parteien haben sich mit uns abgefunden, sie akzeptieren uns, da hatte ich das Gefühl: Meine historische Aufgabe könnte erfüllt sein.

Ihr Rückzug aus der Politik stand damit fest?

Ja. Ende 1998 nahm ich mir vor, Mitte der Legislaturperiode die erste Reihe zu verlassen. Denn eines war mir damals klar: Höre ich dann nicht auf, geht es weiter bis zur Rente. Ich hätte 2002 wieder antreten müssen. Dann wäre ich noch einmal vier Jahre im Bundestag und am Ende 58 Jahre alt. Es hätte keinen Wechsel mehr in einen anderen Beruf gegeben.

Wenn man Sie so hört, kann man gar nicht anders, als Mitleid für Politiker zu empfinden. Finden Sie Mitleid angebracht?

Ja, und zwar in Situationen, in denen man auch mit anderen Menschen Mitleid haben sollte. Politiker sind oft hilflos, ohnmächtig, überfordert. Warum sollte man da kein Mitleid empfinden?

Vor ein paar Jahren haben Sie auf die Frage noch ganz anders geantwortet.

Ist das wahr? Dann war das ein inhumaner Zug in mir, den ich inzwischen überwunden habe.

Sie hätten kein Erbarmen, haben Sie gesagt, weil Politiker das falsche Bild, das über sie existiert, sich selbst organisieren würden.

Das sehe ich zum Teil immer noch so. Die meisten Politiker gestehen sich die ungeheure Begrenztheit ihrer Wirkungsmöglichkeiten nicht ein. Im Moment nehmen sie jeden geschaffenen Arbeitsplatz für sich in Anspruch und vergessen, dass sie dann auch für jeden weggefallenen haften. Politiker sind also an dem trügerischen Bild, das über sie existiert, sogar interessiert. Insofern ist Mitleid unangebracht.

Noch einmal zurück zu Enzensberger. Er schrieb in seinem Essay auch über den Rückzug aus der Politik: „So leicht es ist, in die politische Karriere einzutreten, so gering ist die Chance, ihr mit heiler Haut zu entkommen.“ Welche Verletzungen tragen Sie davon?

Ich bin in der Politik jahrelang persönlich gejagt worden, ohne dass ich je vollständig verstanden hätte, woher die Leidenschaft für diese Art der Auseinandersetzung kam. Konkurrenz- und Neidgefühle reichen da als Erklärung nicht aus. Diese Verletzungen bleiben. Ich bin anderen Menschen gegenüber dadurch leider etwas misstrauisch geworden.

Sie haben zugegeben, dass Sie manchmal sehr einsam waren.

Das stimmt, ich war oft sehr einsam. Mir ging es so, als ich mit mir selbst als öffentliche Person nicht mehr richtig zurechtkam und das niemandem vermitteln konnte. Solche Momente wirken tief, aber zum Glück gibt es sie nicht so häufig.

Wer hat Ihnen da geholfen?

Da kann dir keiner helfen, außer vielleicht deine Familie.

Sind Sie gescheitert?

Sehen Sie, hinter dieser Frage steckt auch ein Grund, warum Politiker nicht ohne Verletzungen davonkommen. In unserer Mediengesellschaft gibt es nicht nur ein typisches Bild für den Eintritt in die Politik, sondern auch für den Ausstieg, und wer dieses Bild nicht bedient, muss mit Fehlinterpretationen leben. Meinen Hauptgrund für den Ausstieg aus der Politik, den ich Ihnen vorhin geschildert habe – natürlich gibt es auch noch andere politische und private Gründe –, den kauft mir kaum einer ab. Mit 52 zieht man sich nicht aus der Politik zurück. Wer das tut, muss wohl gescheitert sein. Aber ich bin nicht gescheitert. Ich gehe eher zum richtigen Zeitpunkt und mit dem Gefühl, einiges bewirkt zu haben. Außerdem: Ohne das Amt des Fraktionsvorsitzenden ist man ja noch nicht raus aus der Politik.

Haben Sie sich jemals über den Spruch Ihrer Mutter geärgert, die behauptet hat, Sie hätten den Beruf verfehlt, im Grunde seien Sie ein begnadeter Schauspieler?

Natürlich habe ich mich darüber geärgert.

Warum?

Weil dieser Satz bedeutete, dass meine Mutter mich in meinem jeweiligen tatsächlichen Beruf nicht ideal besetzt fand. Mal ganz davon abgesehen, dass ich kein begnadeter Schauspieler geworden wäre. Ich beherrsche nicht die Kunst der Wiederholung. Der Theaterschauspieler Ekkehard Schall hat über 300-mal den „Arturo Ui“ gespielt. Ich würde mich schon nach der zehnten Vorstellung mit mir langweilen.

Würden Sie sich heute ärgern, wenn Ihnen jemand vorhielte, Sie hätten den Beruf des Politikers verfehlt?

Nein, weil die meisten von einem Politikerverständnis ausgehen, das meinem nicht entspricht.

Fühlen Sie sich überhaupt als Politiker?

In meinem tiefsten Innern nicht.