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: Europäischer Offensivfußball ohne deutschen Anteil

Wir müssen draußen bleiben

Auch wenn der Europameister wegen des lästigen Redaktionsschlusses auf dieser Seite noch nicht vermeldet werden kann: Es ist vollbracht! Und es war wohlgetan! Lange ist es her, dass bei einem großen Turnier die vier besten Teams auch das Halbfinale erreichten, und der Trend, der sich bei der letzten WM sachte andeutete, hat sich auf höherer Ebene fortgesetzt: Guter Fußball lohnt sich wieder. „Es war sicherlich die offensivste Europameisterschaft seit vielen Jahren“, hat Pelé beobachtet. Genau gesagt, seit 1984, als Franzosen, Portugiesen, Spanier und Dänen mit begeisterndem Fußball überraschten. Auch damals, seltsame Koinzidenz, waren die Deutschen die Deppen des Turniers.

Die offensive Ausrichtung diverser Teams war diesmal indessen keine Überraschung, spiegelte sie doch nur die Entwicklung in den starken Ligen Italiens, Spaniens und, mit Abstrichen, Englands wider. Paradoxerweise ist die Renaissance des Angriffsfußballs erfreuliches Resultat einer destruktiven Entwicklung. Die fast überall in Europa praktizierte Raumdeckung, welche eine atemlose Enge im Mittelfeld schafft, lässt der gegnerischen Mannschaft kaum noch eine Möglichkeit, sich Torchancen herauszuspielen, sobald der Abwehrverbund in Position steht. Abgesehen von Standardsituationen und Zufällen, sprich: individuellen Fehlern, bleibt als einzige Möglichkeit, Tore zu schießen, den Angriff schneller vorzutragen, als sich die Defensive formieren kann. Manche Spitzenspiele in Italiens Serie A ähneln inzwischen Basketballspielen, bei denen beide Teams nichts als Fast-break spielen.

Es ist symptomatisch, dass fast alle Spieler der EM-Halbfinalisten, aber auch die von Jugoslawien, Spanien oder Rumänien in den drei führenden europäischen Ligen spielen oder gespielt haben. So können sie das dort gelernte System problemlos in die Nationalmannschaft übertragen. Selbst der italienische Neo-Catenaccio macht auf dieser Basis Sinn. Die Italiener repräsentieren eben nur eine Hälfte der Serie A, die Defensive. Da haben die einheimischen Profis ihren Platz, dort werden sie gebraucht. Für die andere Hälfte, den offensiven Part, sind die ausländischen Stars zuständig: Zidane, Verón, Davids, Rui Costa, Zanini, Nakata, Ortega und wie sie alle heißen. Logisch, dass es in Zoffs Team beim Spiel nach vorn hapert, wenn auch nicht so krass wie bei den Deutschen.

Womit wir in der Bundesliga wären, wo immer noch die Dauer des Ballbesitzes als Beleg für Überlegenheit gewertet wird (siehe nebenstehenden Artikel). Das ist hoffnungslos veraltet. Ballbesitz steht heute für Einfallslosigkeit, Quergeschiebe und Schematismus. Die besten Teams bei der EM hatten die niedrigsten Werte in dieser Kategorie, das DFB-Team war führend. Ebenfalls ein Spiegelbild der heimischen Liga. Hinzu kommt, dass in der Bundesliga immer noch diverse Formen der Manndeckung gepflegt werden und es kein einheitliches System gibt. Die Spieler können zwar ihre Rolle im Verein, sind aber hilflos, wenn sie zum Nationalteam kommen.

Zinedine Zidane sei auch deshalb so gut geworden, sagt Pelé, weil er jetzt seit drei Jahren in Italien spiele. Für die DFB-Kicker ist diese Schule derzeit geschlossen. Sie kommen höchstens in die Premier League, da aber auch nur nach Liverpool, Middlesbrough oder Tottenham, nicht zu den modernen Spitzenteams wie Manchester, Chelsea oder Arsenal.

Natürlich mag hierzulande niemand wahrhaben, dass der deutsche Fußball und seine Bundesliga einfach nicht mehr mithalten können. An mangelnder Klasse kann und darf es nicht liegen, also muss der Charakter herhalten. Desorientierung wird in Böswilligkeit umgedeutet. Wenn der Deutsche schon miserabel kickt, dann mit Absicht. Selbst jemand wie Günter Netzer wird in diesen Zeiten vom Hirnschwurbel erfasst und lässt sich widerstandslos Sätze in den Mund legen wie: „Das höchste Gut eines Landes ist seine Nationalmannschaft“ (Sportbild). Und dann will er allen Ernstes Jeremies, Babbel und Hamann rauswerfen, weil sie – drei erwachsene Männer, wohlgemerkt – einen Abend in Köln verbracht haben. Himmel, wo lebt der Mann?

Wenn die fleischgewordene Utopie von einst zum Zuchtmeister gerät, muss die Lage tatsächlich ernst sein. Klar ist, ein neuer Daum als Coach wird sie kaum retten, schließlich ist keiner der Trainer jener Mannschaften, die im EM-Viertelfinale standen, als große Leuchte bekannt. Die Sache ist simpel: Besserer Fußball kann nur durch besseren Fußball entstehen. Und zwar in der Bundesliga.

MATTI LIESKE