Kopf leer, Schreibtisch frei

Querpässe und Torschüsse, Nacktschnecken und Froschschenkel, Junkfood aus Benelanden und kopfballstarke Zwei-Meter-Trümmer: Abschließende EMpressionen unseres Reporters

von BERND MÜLLENDER

Anfangs hatte sich der Riese als Wundermann in die Fachdebatte eingeschlichen. Ein kopfballstarker Zwei-Meter-Trumm vorne rein wie Tschechiens Jan Koller, Norwegens Tore Andre Flo oder Hakan Sükür aus der Türkei, hieß es, und ein neues Spielsystem funktioniert. Man staunte. Auch Erich Ribbeck. Und ließ mit dem Brecher Carsten Jancker als einzigem Stürmer gegen Portugal angreifen. Fatal nur: Jancker ist bekanntlich etwa so kopfballstark wie Jens Lehmann fangsicher. Alle vier Halbfinalisten spielten anders. Die Debatte ruht wieder. Stattdessen gerieten Begriffe wie Scham und Schande in den Blickpunkt. Schämt sich eigentlich niemand für diese schamlosen Schamdebatten?

Statistik ohne Ende: Es gab EM-Spiele mit nur vier Ecken (Schweden–Türkei). Dänemark–Tschechien hatte die meisten (17), aber gleichzeitig die wenigsten Torschüsse (15), doppelt so viele gab es bei Schweden–Italien. Das fairste Spiel war Türkei–Italien (nur 20 Fouls und keine Karte). Bei Slowenien–Jugoslawien war der Ball mit weitem Abstand am kürzesten im Spiel (nur 40:13 Minuten), dennoch war gerade in dieses Spiel die meiste Dramatik gepackt. Und wo wurde der Ball mit 62:47 Minuten am unermüdlichsten getreten? Beim Hit Deutschland–Rumänien. Was lehrt uns das alles? Nix.

Franka Layer, ein Pseudonym, hatte in dieser Zeitung eine der täglichen Europameisterschafts-Kolumnen des Namens Kikkerballen geschrieben. Der Kollege vom Kölner Stadtanzeiger machte sich deshalb auf die Suche. Seine Tochter heißt nämlich so und ist gerade ein Jahr alt. Wir erklärten ihm, eine sehr junge Autorin mit stotterndem Stimmchen hätte der taz telefonisch einen Text angeboten: „Ich kann zwar noch nicht richtig sprechen, aber schon viel besser schreiben. Deshalb rufe ich ja bei einer Zeitung an und nicht beim Radio.“ Der Kollege traute das seinem Kind nicht zu, mutmaßte immer neue Autoren und sagte am Ende verzweifelt: „Ich glaube noch, ich war’s selbst.“

Der Name Kikkerballen hat derweil verwirrt. Ob es nicht Bitterballen hätte heißen müssen, wurde da gefragt, jene gebackenen Püreekugeln aus Keinerweißgenauwas, die Junkfood-Spezialität aus Benelanden? Nee, Kikkerballen ist unsere Fußballform von Kikkerbillen, dem schönsten Begriff der niederländischen Hochsprache. Das heißt Froschschenkel. Aber vermutlich sind zermahlene Kikkerbillen auch in Bitterballen drin.

Normalerweise setzen Fans mit ihren Transparenten nur lokale Duftmarken: „Old Boyz Gladbach“ oder einfach „Würgassen“. Beim Spiel der Deutschen in Lüttich versuchte eine Handvoll Aachener via EM den verhassten Alemannia-Trainer zu vertreiben: „Hach raus“ hing da groß an der Osttribüne. Fünf Tage später war Ingo Menzel, vom selbstherrlichen Hach gerade kommentarlos aussortierter Alemannia-Profi, in Charleroi und suchte auf dem Schwarzmarkt nach einem Ticket. Grund, klar: Bei Deutschland-England dabei sein. Und der andere: „Ich möchte einmal dieses Plakat selbst sehen.“ Schön für Menzel: Er kam ins Stadion. Tragisch: Das Transparent nicht.

Die DFB-Elf hatte den meisten Ballbesitz aller Teams (58 Prozent). Ein überraschendes Zeichen von Überlegenheit? Falsch: Ein Beleg dafür, dass die Deutschen nicht wissen, was mit dem Ball tun. (siehe auch nebenstehenden Press-Schlag). Der Weltrekord von 473 Querpässen in der Abwehr pro Spiel (selbst gefälschter Wert) sind womöglich Grund, dass nur ein Tor in drei Spielen gelang. Und wenn sie mal vorne waren, wussten sie nicht wohin mit dem feindlichen Spielgerät: Keine Mannschaft schoss so oft daneben – 8,33-mal.

Belgien! Ein vollkrasses Lob auf das Königreich der Fritten: Nirgends gibt und gab es so ausnahmslos rasant nette, hilfsbereite, freundliche, zuvorkommende Ordner („Stewards“) wie im schönen Brügge, Westflandern. Chapeau! Entschuldigung: Hoedje!

Belgien! Was sind alle an diesem Land, an seiner Desorganisation verzweifelt. Keine Zeitung kam ohne staunende Belgierglosse aus. Als ein Blatt schrieb „Der Belgier hat das Chaos erfunden, um seine genialische Improvisisationskunst unter Beweis stellen zu können“, konterte ein in Belgien lebender Deutscher sofort mit empörter Abokündigung (es war nicht die taz). „Belgisches Chaos“ – der weißeste aller weißen Schimmel. Dabei hat Simone Borowiak „die maßlos unterschätzte Ausnahmeerscheinung Belgien“ schon lange treffend definiert: „Jeder gegen jeden und alle gemeinsam für den Erhalt der konstitutionellen Anarchie.“

Oranje: von ganz boven nach tief beneden. Alles war apfelsinenfarben: Hausdächer, Fassaden, Ganzkörperbekleidung, Kondome, Kronprinzenwesten, Bananen, Dildos, Straßenzüge und Kühe sowieso, die Bettwäsche der deutschen Kicker in Vaals, selbst Orangen. Die Zeit hatte sogar beobachtet, dass holländische Nacktschnecken „am Saum der Kriechfläche nachts oranje schimmern“. Dann die Orientierungslosigkeit wegen der versehentlich nicht oranje markierten Strafstoßpunkte und der Transfer der Elftal als Elfmetertal ins Jammertal. Und der Leichenbestatter in Vught nahe Eindhoven kann jetzt das ganze Land in seine oranje Särge packen.

Noch zu Oranje-Zeiten wurde man in Rotterdam kalt lächelnd rund ums Stadion geschickt, aus Prinzip, auch wenn man zwar neben dem Ziel war, aber eine falsche Farbe auf seiner Eintrittkarte hatte: Rot statt Gelb. Hier wäre die Oranje-Mischung angemessen gewesen. „Rotterdam scheint das Belgien Hollands zu sein“, sagt einer nach der 1.200-Meter-Stadionumrundung.

Jeder leere Platz ist ein Ärgernis. Lückenlos voll waren nur die Holland-Spiele und Deutschland–England. Nach offiziellen Uefa-Statistiken wurden immer genau ein Prozent der Karten mit Vorsatz nicht verkauft, manchmal blieben noch ein paar tausend liegen. Und: Mehrfach kamen 3.000 Ticketbesitzer (vereinzelt noch mehr) einfach nicht ins Stadion. „Eine überaschend große Zahl von no-shows“, schreibt die Uefa ohne Erklärung, vor allem bei Italien-Spielen. Selbstverordneter Besuchs-Catenaccio?

Freunden der Nostalgie sei noch eine Fundgrube der Realsatire empfohlen. Unter www.dfb.de/dfb-team/em2000/pk/index.html lassen sich alle DFB-Pressekonferenzen aus Vaals im Originalton nachhören und videogucken. 10 Stunden Trash. Wer macht eine CD daraus?