„Staunliches waltet viel“

Im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel werden die letzten hundert Jahre Bauen in Berlin präsentiert. Demnächst könnte ein eigenes Architekturmuseum folgen

Architektur boomt in Berlin. In der Neuen Nationalgalerie hängen fragile Modelle von Renzo Piano, seine Entwürfe liegen auf sachte schaukelnden Tischen. Das Bauhaus-Archiv stellt Ikonen der Architektur des 20. Jahrhunderts multimedial vor, und in Kunstvereinen und Galerien arbeiten sich die Künstler an Idealen und Defiziten der Stadtplanung ab. Architektur auf dem Seziertisch: In ihren Fallgeschichten liest man die Hoffnungen der Städte und das Scheitern ihrer Reformen ab.

Da schiebt sich mitten zwischen die in alle Richtungen fließenden Diskurse solide wie ein Backstein die Ausstellung „Architektur der Stadt. Berlin 1900 –2000“. Mit einem Katalog, der am Beispiel der Berliner Baugeschichte die Stadtkonzepte eines Jahrhunderts Revue passieren lässt, mit einer Chronologie des Bauens in Berlin und 550 Exponaten wirkt das Projekt ermüdend gründlich. Vieles von dem, was in letzter Zeit bereits Ausstellungsthema war, wiederholt sich: der Streit um das Hochhaus in den Zwanzigerjahren, die Gartenstadtmodelle gegen die Mietskasernen, die expressionistischen Utopien vom Neuanfang und die unheimlichen Wege, die von der nationalsozialistischen Gigantomanie in den Wiederaufbau der kriegszerstörten Stadt führen. Eine neue Perspektive im Blick auf das Jahrhundert entwickelt die Ausstellung nicht.

Allein der Ort, die Ruine des Neuen Museums auf der Museumsinsel, umgibt die Erzählung von der Moderne mit einem spannenden Hintergrund. Die Kulisse liefert einen Subtext vom vorausgegangenen Idealismus und dem Sturz ins Nichts. Das Neue Museum, das 1843 bis 1855 von Friedrich August Stüler gebaut wurde, gleicht einem Bilderbuch des Historismus. Der Wiederaufbau der seit dem Krieg gesperrten Ruine durch David Chipperfield steht schon fest. So ist der jetzige Besuch die einzige Gelegenheit, das Haus in jenem fragmentarischen Zustand kennen zu lernen, dessen Ruinenromantik selbst Chipperfield uneinholbar schön erscheint.

Hinter den Stellwänden und klimatechnischen Einbauten, die zum Schutz der Exponate notwendig waren, lugen die alten Wandbilder hervor. Da sieht man über dem Experiment Gartenstadt fleißige Zwerge werkeln, Herkules kämpft sich hinter dem „Versuch eines gesamtdeutschen Neuanfangs“ eine bemalte Säule hoch, und Idealstädte des Historismus türmen ihre Zitate quer durch die Jahrhunderte über dem Aufbauprogramm für die Stalinallee. Das Motto des Niobensaals kann man uneingeschränkt übernehmen: „Staunliches waltet viel und doch nichts Erstaunlicheres als der Mensch.“

Der Architekt Josef Paul Kleihues, der den Hamburger Bahnhof zum Museum umgebaut hat, ist Initiator des Rückblicks, der Gebautes ebenso wie Plan Gebliebenes als Manifestation der Ideengeschichte begreift. Oft sieht man mit Erleichterung, welche Visionen der Stadt erspart blieben: Zum Beispiel das „Reichshaus am Königsplatz“, das Otto Kohtz 1921 als ein Monument nationaler Stärke entworfen hat. Die achtstufige Pyramide lässt Reichstag und Siegessäule klein schrumpfen. Aber auch bei Architekten, die gerade von staatlicher Repräsentation Abstand nahmen und stattdessen an die Ausdünnung der Baumasse bis hin zum funktionalen Skelett dachten, ist der Hang zum Ausradieren der bisherigen Stadt ausgeprägt. Die schlanken Riegel, die Ludwig Hilbersheimer 1929 für die Neubebauung der Friedrichstadt vorschlug, setzen dynamisch wie eine Autobahn über Block und Parzelle hinweg.

Der Schrecken ist vielfältig und die Illusion eines Neuanfangs von erstaunlicher Kontinuität: Sie wiederholt sich nach dem Krieg, nach dem Bau der Mauer, nach ihrem Abriss, bis heute immer wieder. Das vermittelt die Ausstellung selbst noch in den Kapiteln, die eigentlich der Wiederentdeckung der historischen Stadt mit Bauten von Aldo Rossi, IBA-Projekten und der Bebauung der Friedrichstraße gewidmet sind, als wäre selbst das Geschichtsträchtige hier stets eine Neuerfindung.

So liefert dieser etwas biedere Rückblick, der sich auffällig aus aktuellen Debatten der Stadtplanung zurückhält, dennoch reichlich Stoff, ihre Probleme zu begreifen. Auch durch den Katalog, der mit vielen Fotos den meist seltsam rein wirkenden Entwürfen und Modellen erfahrene Stadt entgegenhält. Für die Staatlichen Museen ist die Ausstellung, die reichlich Material aus ihren Archiven und dem der Akademie der Künste nutzt, auch Propaganda in eigener Sache, wollen sie doch ein Architekturmuseum neu gründen und dafür Schinkels Bauakademie wieder aufbauen lassen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Bis 3. 9. Neues Museum, Berlin; Katalog im Nicolai Verlag 49,90 DM