Jagd auf die Schlangenköpfe

In einem Dorf der südchinesischen Provinz Fujian haben Nachbarn das Haus eines Menschenschleppers zertrümmert: Rache für die 58 Toten von Dover

aus Jiangyan GEORG BLUME

Es fällt leicht, Tang Huazhun* nur als Opfer zu sehen. Der jüngere Bruder des im Tomatencontainer von Dover erstickten Tang Handau ist einer der unmittelbar Leidtragenden der chinesisch-englischen Auswanderungstragödie, die am Wochenende den Besuch des Pekinger Premierministers Zhu Rongji in Deutschland überschattete. Daheim in seinem Dorf Jiangyan in der südchinesischen Provinz Fujian muss Tang für die Frau und die drei Kinder seines verstorbenen Bruders aufkommen. So verlangt es die Tradition.

Im Namen von Bürgern wie Tang will die Regierung in Peking nun gemeinsam mit Berlin und anderen westlichen Regierungen gegen die illegale Immigration vorgehen. Denn China und der Westen sind sich einig: Schuldig an der Katastrophe von Dover sind chinesische Menschenschlepperbanden, die von den westlichen Medien gern als moderne Sklaventreiber bezeichnet werden, weil sie sich die verbotene Reise ins Ausland meist in harter Arbeit abzahlen lassen. Vor Ort im Dorf Jiangyan nennt Tang die Emigrationsvermittler „Schlangenköpfe“. Schon der bedrohlich klingende Name scheint in westlichen Augen die Jagd auf sie zu rechtfertigen.

Schlepper als Informationsquelle

Doch bei den Hinterbliebenen der Toten von Dover geht die Rechnung anders auf. Vorsichtig erklärt Tang, Sohn einer einfachen Bauernfamilie, die Lage. Er selbst, der zuvor acht Jahre als Gastarbeiter in Japan verbrachte und ein kleines Vermögen ansparte, hatte Geld für die Reise seines Bruders vorgestreckt und den Vertrag mit dem Schlangenkopf unterzeichnet. Jetzt schuldet ihm dieser den gesamten Betrag von 50.000 Yuan (umgerechnet 12.000 Mark). Doch der Schlangenkopf wird nur zurückzahlen, wenn ihn die Polizei nicht vorher festnimmt.

Nicht nur deshalb bleibt der Mittelsmann inmitten des Unglücks wichtig: Ohne ihn hätte Tang womöglich bis heute nichts Zuverlässiges über das Schicksal seines Bruders erfahren. Denn so ehrlich waren der Schlangenkopf und seine Leute in England, dass sie den Angehörigen der Opfer in Jiangyan von den Ereignissen berichteten. Tang telefonierte zudem mit eigenen Bekannten in London, die bis kurz vor der tödlichen Kanalüberfahrt mit seinem Bruder Verbindung hielten. Der hatte sich bis dahin nicht über die Reise beklagt.

Wer also sind diese Menschenschänder und Sklavenhälter, mit denen jetzt die ganze Welt abrechnet? „Schlangenköpfe sind nicht von Natur schlechte Menschen. Es sind Geschäftsleute, die ihren Gewinn suchen“, sagt Tang trocken. Ohne sie wäre er nie nach Japan gekommen, wäre aus dem 33-jährigen Bauernsohn nie ein Koch, Bauarbeiter und Geschäftsmann geworden, der heute für seine Familie und die seines Bruders einstehen kann.

In Jiangyan kennt jeder den dörflichen Schlangenkopf. Sein grün verglastes Haus steht am Dorfausgang gegenüber der alten Schule, über deren Tor ein roter Stern auf die im Dorfbild kaum mehr erkennbaren Herrschaftsverhältnisse hindeutet. Denn Jiangyan boomt. Von weitem wirkt es wie eine Feriensiedlung zwischen dem Blau des südchinesischen Meeres und dem Grün der Küstenberge. Man erreicht das von den Hauptverkehrswegen abgelegene Dorf auf einer vierspurigen Straße, an deren Rändern braune Wasserbüffel grasen.

Vorher ist man die Küste von der Provinzhauptstadt Fuzhou gen Süden gefahren: Vorbei an Buchten voller Bananenstauden, manche nur von Fischerbooten genutzt, manche zum Hafenterminal für Supertanker ausgebaut. In gerade Linie misst die Küste der Provinz Fujian 535 Kilometer, in Wirklichkeit aber ist sie mit ihren Buchten, Inseln und Halbinseln 3.300 Kilometer lang. Und es scheint, als sei kein Meter davon ungenutzt geblieben.

Die Fujianer zieht es ins Ausland

Jiangyan macht keine Ausnahme: Mehrstöckige Neubauten reihen sich aneinander, einer höher, bunter und mit reichhaltigeren Verzierungen versehen als der andere. Das Geld für teure Klinker, Rundfenster und Balkons stammt nicht von der Partei, sondern ist selbst verdient. Meist im Ausland, wo es die Bewohner von Jiangyan und der Provinz Fujian hinzieht, wenn sie ins arbeitsfähige Alter kommen – im Gegensatz zu den eher bodenständigen Chinesen anderer Landesteile.

„Es ist ganz einfach. Man geht entweder ins Reisebüro oder zu einem Schlangenkopf“, verrät der Dorffriseur. Dabei geht ins Reisebüro, wer bereits enge Verwandte im Ausland hat, die für eine reguläre Ausreise sorgen können. Der Rest ist auf die Schlangenköpfe angewiesen. Die aber rangieren im Ansehen der Dorfbewohner irgendwo zwischen Gebrauchtwagenhändlern und Zuhältern und werden keinesfalls im Vornherein zu Kriminellen gestempelt. Zumal ihr Name hier kein Urteil vorwegnimmt: Im Chinesischen unterstellt „Schlangenkopf“ pragmatisch die Fähigkeit einer Schlange, die es mit ihren beweglichen Kopf versteht, sich einen Weg durch Hindernisse zu bahnen.

So konnte auch der Schlangenkopf von Jiangyan seiner gesellschaftlichen Anerkennung sicher sein – und sein Haus gegenüber der Schule zeugte davon, bis das Unvorhersehbare eintrat: Die Containerkatastrophe von Dover. Sie war eben nicht vergleichbar mit den gewöhnlichen Risiken der illegalen Immigration, wie sie die Dorfbewohner kennen. Dass jemand im Gefängnis landet oder statt mit den Taschen voller Geld mit hohen Strafgeldern nach Hause kommt – das sind die Leute in Jiangyan gewöhnt. Aber 58 Tote aus ihrer Provinz, darunter 18 aus ihrem Kreis und einer aus ihrem Dorf – das lag außerhalb ihrer Vorstellungen. Und so gingen die Nachbarn Tang Handaus mit Steinen zum Haus des Schlangenkopfs. Nur die Fenster im fünften Stock und der Neujahrsvers an der Haustür blieben unversehrt: „Unser Hof empfängt Reichtum aus Norden, Süden, Osten und Westen.“

Längst sind dem Bruder des Verstorbenen die Scherben unangenehm. Tang Huazhun befürchtet weitere Unannehmlichkeiten durch die Polizei. Zumal es seiner Meinung nach mehr der Schock von Dover als der Hass auf den lokalen Emigrationsvermittler war, der die Dorfbewohner zur Randale trieb.

So denkt auch die junge, in ein luftiges Seidenkleid gehüllte Pastorin am Ort. „Es ist das größte Unglück, dass unseren Angehörigen im Ausland je widerfahren ist“, meint Deng Hutong von der christlichen Gemeinde in der Kreisstadt Fuqing. Deng leitet eine Bibelgruppe für allein gelassene Familienangehörige, deren enge Verwandte im Ausland leben. Sie kennt die Sorgen der Zurückgebliebenen, die ihre Angehörigen in Amerika wähnen, und plötzlich einen Anruf aus Afrika bekommen. Doch die sie weiß auch, wie viel ärmer ihre Gemeinde ohne die Emigranten wäre.

„Es gibt drei Sorten von Fujianern“, sagt Deng. „Die ersten sind Rückkehrer, die sich mit ihrem im Ausland verdienten Geld neue Häuser bauen. Die zweite Gruppe ist noch jung und plant, ins Ausland zu gehen. Und die dritten befinden sich gerade im Ausland.“ So sei das eben mit den seefahrtstüchtigen Fujianern. Im Mittelalter waren sie Piraten. Dann bevölkerten sie Taiwan, später ganz Südostasien, wo sie bis heute zahlreiche blühende Geschäftskolonien unterhalten. Und schließlich die Auswanderung in den Westen: nach New York und Vancouver, Paris und London, wo Fujianer seit langem eigene Stadtviertel bevölkern.

Niemand, nicht einmal der Pastorin, käme deshalb in den Sinn, die Schlangenköpfe als Verbrecherbanden zu bezeichnen. Sie sind zu sehr Teil des Erfolges, mit dem sich Fujianer weltweit in fremde Gesellschaften integrieren – meist ohne aufzufallen, nie als soziale Problemgruppe hervorstechend, es sei denn in Tokio findet gerade mal wieder ein Bandenkampf zwischen Schanghaiern und Fujianern statt.

Tatsächlich gibt es unzählige Schlangenköpfe. Oft gehen die Gruppen aus einem Dorf- oder Großfamilienclan hervor, der ihnen zugleich eine feste Klientel sichert. Nach dem Prinzip: Aus jeder Familie geht einer nach draußen. Die Gruppen teilen sich die Aufgaben auf: Einige sind auf das Fälschen von Pässen und Visa spezialisiert, andere übernehmen die Reiseorganisation, wieder andere die Betreuung (und Ausbeutung) im Ausland. Nicht jeder darf mitfahren, sondern nur die, welche den Schlangenköpfen vertrauenswürdig erscheinen und nicht zu Verrat und Meuterei auf der gefährlichen Reise taugen.

Die Mafia übernimmt das Geschäft

Je größer dabei die Hindernisse, die die reichen Länder an ihren Grenzen aufbauen, und je mehr Geld das waghalsige Auswanderungsunternehmen verschlingt, desto leichter lassen sich die Schlangenköpfe kriminalisieren: vor allem von der Mafia, die die Gruppen aufbricht, um ihre lukrativen Geschäfte zu übernehmen. „Eigentlich gehören wir nicht zur Verbrecherwelt. Doch immer häufiger schaltet sich die Mafia ein und zerstört die Dorfverbindungen der alten Gruppen“, berichtete ein in Tokio tätiger Schlangenkopf dem japanischen Immigrationsexperten Yasuro Morita.

In Jiangyan aber gibt es bisher keine Mafia. Die würde ihr Haus nicht gegenüber der Schule bauen, und die Dorfbewohner hätten viel zu viel Angst, sie offen anzugreifen. Bei aller Weltoffenheit herrscht hier ein einfaches Leben. Man geht schließlich nicht zum Studieren ins Ausland, sondern gerade lange genug, um das Geld für die eigenen vier Wände zu verdienen, die dann aber höher und schöner als die des Nachbarn sein sollen. Deshalb ist Tang Huazhun trotz seines guten Japanisch, das er in der Zwischenzeit lernte, nach den Jahren in Tokio wieder nach Jiangyan zurückgekehrt. Und deshalb war es ihm auch eine Ehrensache, seinen Bruder ins Ausland zu schicken. Auch der sollte einmal sein eigenes Haus verdienen. In China ist das für einen Bauern noch immer unmöglich. Daran etwas zu ändern, sollte für die Regierungen in Ost und West eine dringlichere Aufgabe sein als die Bekämpfung der Schlangenköpfe. Einer wie Tang hat sich jedenfalls nie als ihr Opfer verstanden – auch heute, nach dem Tod seines Bruders nicht.

* Eigennamen von der Redaktion geändert