Der Herbst der Liebe

Eine Spur des Geistes von Woodstock hat Roskilde bewahrt

BERLIN taz ■ In Arkadien duftet es nach Marihuana, es klingt nach Jimmy Hendrix, und wenn’s regnet, waten wir eben durch mitunter metertiefen Schlamm. Sich aus der Realität auszuklinken und ein paar Tage in einer parallelen Welt entspannen – unter freiem Himmel, bei freier Liebe und zu freier Musik – das gehört seit Woodstock (1968) zum Lebensgefühl der jeweils heranwachsenden Generation. Wie auch das Ideal, die euphorisch-anarchischen Massenveranstaltungen könnte der Funke sein, der die Welt in einen friedlichen, harmonischen Ort verwandelt.

Der Sommer der Liebe war längst vergangen, da wollte ihn ein Musikmanager aus Kopenhagen wieder auferstehen lassen: Woodstock, Newport, Isle of Wight – zu den klingenden Namen großer Festivals sollte sich 1971 auch der von Roskilde gesellen, ein verschlafenes Städtchen unweit von Kopenhagen.

Wo zuvor die Schafe grasten, lockte das zweitägige „Sound Festival“ mit 20 Gruppen jeder denkbaren Musikrichtung immerhin 10.000 BesucherInnen. Groß war damals der Enthusiasmus, übertroffen nur von noch größerem Dilettantismus: Weil er gegen zahlreiche Auflagen verstoßen hatte, wurde der Veranstalter für das folgende Jahr nicht mehr verpflichtet. Stattdessen nahm der Stadtrat von Roskilde, der prompt Gefallen am unerwarteten Ansturm junger Touristen gefunden hatte, eine örtliche Wohltätigkeitsorganisation in die Pflicht – seitdem kümmert sich der „Foreningen Roskildefonden“ und sein Heer aus ehrenamtlichen Mitarbeitern um Organisatorisches, trägt ein Drittel der finanziellen Verantwortung und spendet einen Gutteil der Einnahmen für wohltätige Zwecke.

Mit diesem gleichsam eingebauten guten Gewissen überlebte das Festival in Roskilde alle konkurrierenden Konzepte, wurde professioneller – und entwickelte sich zur größten Veranstaltung ihrer Art auf kontinentaleuropäischem Boden. Das orangene Zelt, vor dem nun acht Menschen zerquetscht wurden, ist seit 1978 das offizielle Symbol des Festivals und wurde von einer Firma errichtet, die den Rolling Stones gehörte. In den 80ern opferte Roskilde denn auch seinen alternativen Anspruch zugunsten großer Namen: Neben Bands wie The Cure oder U2 setzten die Organisatioren auf Diversifikation, um in einer buchstäblichen Musiklandschaft beinahe jeder Stilrichtung eine Bühne zu geben.

Mit Kino, Apotheke, Bank, eigenem Bahnhof und einem beispiellosen Umwelt-Programm (Mülltrennung, Pfandbecher etc.) hatte sich Roskilde bald zu einer Geisterstadt entwickelt, die jeden Juli zu neuem Leben erwacht und bis zu 120.000 Zuschauer beherbergt. Mitte der 90er wurde sogar die Zuschauerzahl freiwillig beschränkt. Zuerst auf 90.000, dann auf 70.000 Besucher – dass sich solche Massen jeder Kontrolle entziehen, ist die wohlfeile Lehre der Tragödie. ARNO FRANK