Die tragische Gurke des EM-Finales

Die Lobeshymnen auf Alessandro Del Piero waren schon geschrieben, doch dann verkehrte die bizarre Wendung des EM-Finales auch die Leistung des chancenversiebenden Spielers von Juventus Turin in ihr krasses Gegenteil

ROTTERDAM taz ■ Schlusspfiff, Siegerehrung. Die zweite Verlängerung von Rotterdam. Alessandro Del Piero steht regungslos auf dem Rasen, abseits von den Kollegen. Der Blick: leer ins Unendliche. Die Hände des Stürmers mit dem alten italienischen Briganten-Charme verdecken minutenlang seine versteinerte Maske, gegen die sein Mumientrainer Dino Il Monumento Zoff wie ein grimassierender Kasper wirkt. Holt der überhaupt noch Luft oder hat er auf Kiemenatmung umgestellt? Trost: keiner.

Alessandro Nesta, der später sagen wird: „Zweiter zu werden ist nichts“, kommt kurz vorbei und gestikuliert ein paar Sätze auf ihn ein. Reaktion: keine. Wahrscheinlich hat er es gar nicht gemerkt. Die italienische Mehrheitsfraktion der hippen Schönlinge mit den Hildegard-Knef-Haarreifen stapft zur Verliererehrung. Der 25-jährige Juve-Mann holt sich die Silbermedaille als Letzter und stopft das Schandmetall schnell unters Trikot.

Mit der Einwechslung des jungen Altstars nach 52 Minuten war sofort Feuer ins italienische Spiel gekommen. Frankreichs glorreicher Defensivverbund wirkte augenblicklich desorientiert und fehlorganisiert, und schon lag der Weltmeister 0:1 durch den Treffer von Delvecchio zurück. Später hatte Del Piero zwei grandiose Chancen, die zum Titel gereicht hätten. Einmal schob er freistehend vorbei; einmal, kurz vor Schluss, schoss er Torwart Barthéz an. Pech oder Dummheit? Souverän oder lässig? „Ein Fehlschuss war so schlimm wie der andere“, sagte Del Piero später, „meine Bitterkeit ist riesig.“ Im Übrigen sei er „zerstört“. Zerstört, „weil wir auf unglaubliche Weise verloren haben, und zerstört, weil ich Gelegenheiten hatte, ein Tor zu schießen, und sie nicht nutzen konnte“.

Die Lobeshymnen auf Del Piero waren schon geschrieben: frischen Wind gebracht, Belebung des Angriffs etc. Endlich wieder ein Erfolg für den zweimaligen Champions-League-Finalverlierer, der zuletzt auch in der Meisterschaft seine Torchancen ähnlich locker versiebt hatte und mit Juve im letzten Moment an Lazio gescheitert war. Die alberne Einzelbenotung war abgewickelt und Italiens Erfolg im stumpfsinnigen Gerechtigkeitsfieber als „verdient“ klassifiziert: wer sich solche Chancen erarbeitet, wer taktisch raffiniert so wechselt etc.

30 Sekunden fehlten nach drei Wochen Turnier. Die 94. Minute drehte die Sicht komplett. Hektisch telefonierten die Korrespondenten ihre Heimatredaktionen an: Dramatische Wende, klar, und: Benotungen runtersetzen! Del Piero: höchstens 4. Nichts hatte er anders gemacht, aber jetzt, in der Nachsicht, war er unnachsichtig der Sündenbock, der den Titel schuldhaft verschenkt hatte. Keiner sagte das öffentlich, auch sein Trainer nahm ihn umgehend in Schutz: „Kein Vorwurf an Del Piero“, er habe „viele Sachen sehr richtig gemacht“. Aber eine einzige hätte er etwas anders machen müssen. So war Del Piero, der im Halbfinale für sein dezimiertes Team noch so intensiv und wesensfremd in der Abwehr gerackert hatte, der arme Depp des Endspiels. Dumm gelaufen. Fußball ist eben gemein.

BERND MÜLLENDER