Die ausgefallene Debatte

DIE ZUKUNFT DER BUNDESWEHR (5 und Ende): In der Öffentlichkeit wird vor allem die Zukunft der Wehrpflicht diskutiert. Dabei werden die neuen Aufgaben der Bundeswehr die Republik verändern

von ERIC CHAUVISTRÉ

Mit der geplanten Bundeswehrreform soll das deutsche Militär für Einsätze gerüstet werden, die es bislang nicht erfüllen durfte, sollte und konnte. Die Reform wird die deutsche Außenpolitik verändern, die Rüstungsausgaben erheblich steigen lassen und für Jahrzehnte die Rolle des Militärs in der Berliner Republik festschreiben. Die Reform stellt einen Einschnitt dar, der nur mit der Gründung der Bundeswehr in Jahr 1955 zu vergleichen ist.

Ein solcher Einschnitt sollte kontrovers debattiert werden. Doch findet diese Auseinandersetzung nicht statt. Zwar setzte die rot-grüne Koalition die Wehrstrukturkommission ein; Vorsitzender war Alt-Bundespräsident Richard von Weizäcker. Doch kurz nachdem die Kommission am 23. Mai ihren Bericht vorgelegt hatte, erklärte Rudolf Scharping die Debatte für beendet.

So weit der Weizäcker-Bericht überhaupt diskutiert wurde, drehten sich die Kontroversen fast ausschließlich um die künftige Zahl der Wehrpflichtigen. Doch die Zusammensetzung der Streitkräfte zu debattieren ist nur sinnvoll, wenn vorher die Aufgaben der Bundeswehr geklärt sind. Dass darüber jedoch nicht diskutiert wird, scheint auf einen breiten Konsens hinzudeuten. Und in der Tat besteht unter den tonangebenden Politikern in Koalition und Opposition (mit Ausnahme der PDS) eine bemerkenswerte Einigkeit in verteidigungspolitischen Fragen.

Allerdings hat die Diskussionsfreude schon länger nachgelassen: Seit dem Mauerfall wurde in der deutschen Öffentlichkeit überhaupt nur eine einzige militärpolitische Debatte geführt; sie drehte sich um die Beteiligung der Bundeswehr an „Peacekeeping“-Aktionen, den so genannten Blauhelm-Einsätzen. Hier vertraten SPD und Grüne lange eine ablehnende Haltung, obwohl sich in der Bevölkerung eine breite Zustimmung abzeichnete. Statt zu fragen, ob es sich bei „Peacekeeping“ nicht um eine Aufgabe handelt, für die Polizisten und Friedensarbeiter viel besser geeignet wären als Militärs, beschränkten sich Grüne und SPD auf die simple Option des Alles oder Nichts.

Diese Vergröberung der Diskussion hat Folgen bis heute: Zum einen wurden und werden alle, die sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr aussprechen, zu Isolationisten und Gegnern der Vereinten Nationen abgestempelt. Zum anderen sind es diese populären friedenserhaltenden Blauhelm-Einsätze, die das Bild möglicher Bundeswehraktionen in der Öffentlichkeit prägen. Nichts könnte irreführender sein. Bei der Bundeswehrreform geht es nahezu ausschließlich um ganz andere, nämlich kriegerische Einsätze. Sie haben mit den Blauhelm-Einsätzen nichts zu tun, die mit Zustimmung der Konfliktparteien stattfinden und unter UN-Kommando.

Dabei gibt der Weizsäcker-Bericht – von den legendären, aber knappen Abschnitten über die Wehrpflicht abgesehen – einen sehr präzisen Überblick über die eigentliche Stoßrichtung der Bundeswehrreform. Es geht darum, das neue „Strategische Konzept“ der Allianz auszufüllen, mit dem sich die Nato im April 1999 selbst das Recht einräumte, künftig auch ohne UN-Mandat zu intervenieren. Die Geschäftsgrundlage der Nato wurde damit dauerhaft und fundamental verändert – ohne eine Abstimmung im Bundestag und mal wieder ohne öffentliche Debatte.

Die derzeitigen Verhandlungen über die Umsetzung einer gemeinsamen „Verteidigungsidentität“ der Europäischen Union weisen in dieselbe Richtung: Die Bundeswehr soll Bestandteil einer EU-Interventionsstreitmacht von der Dimension des US-Militärs werden. Die Weizsäcker-Kommission hat sich deshalb an die Planungen der US-Streitkräfte angelehnt und bei ihren Empfehlungen angenommen, dass auch die Bundeswehr in der Lage sein muss, an zwei Kriegen von der Größe des Golfkrieges „gleichzeitig und zeitlich unbefristet“ teilzunehmen. Verglichen mit auch nur einem dieser zwei geplanten Kriegseinsätze, war die Beteiligung der Bundesluftwaffe an den Bombardements Jugoslawiens eine überschaubare Übung: Waren an den Nato-Einsätzen im Kosovokrieg 14 Tornados beteiligt, so sollen in den künftigen Kriegseinsätzen insgesamt allein 90 bis 100 Kampfflugzeuge im Einsatz sein.

Was sonst noch zu einer Bundeswehr als schlagkräftiger Interventionsstreitmacht gehört, steht ebenfalls im Weizäcker-Bericht: Präzisionswaffen, Lufttransportkapazitäten und Aufklärungssatelliten. Dies erfordert langfristig deutlich höhere Ausgaben – obwohl durch die reduzierte Gesamtstärke und die verkürzte Wehrpflicht Personalmittel eingespart werden. Dieses Einsparpotenzial wird aber bei weitem nicht ausreichen, um die Mehrkosten zu decken. Interventionsarmeen sind teuer, wie die Vorbilder USA, Großbritannien und Frankreich zeigen. Bei einer Armee, die auf reine Landesverteidigung ausgerichtet ist, zählt vor allem die Truppenstärke; für Einsätze fernab des eigenen Territoriums sind zwar nur kleine Einheiten nötig – die müssen aber technisch bestens ausgerüstet sein, und zwar für jedes geographische und klimatische Umfeld. Zudem sollten die Einheiten möglichst ohne eigene Verluste agieren und müssen daher über hoch technisierte Abstandswaffen verfügen, die auch aus weiter Entfernung punktgenau treffen. Zudem sind Luft- und Seetransportkapazitäten nötig, um die Kampfeinheiten schnell in das jeweilige Kriegsgebiet zu verlegen.

Doch neben den finanziellen Konsequenzen wird die Umrüstung der Bundeswehr auch gravierende gesellschaftliche Folgen haben. Denn die Entwicklung von Radarsystemen, Spionagesatelliten, Systemen zur elektronischen Kampfführung, lasergesteuerten Lenkwaffen sowie Aufklärungs-, Navigations- und Kommunikationssystemen erfordert eine so abgestimmte Zusammenarbeit, dass es eine Rüstungsindustrie im engeren Sinne kaum noch geben wird. Sie wird sich mit der zivilen Forschung und Produktion vermischen. Da die rüstungsrelevanten Großtechnologien am zivilen Markt nicht bestehen können, sind die beteiligten Branchen langfristig entweder auf offene Subventionierung oder auf militärische Folgeaufträge angewiesen. Der Druck auf die Politik, immer neue Rüstungsprojekte zu beschließen, steigt dadurch enorm. Diese Entwicklung ist in den USA bereits eingetreteten; in Deutschland könnten die Konsequenzen ähnlich sein.

Und schließlich wird die Bundeswehrreform auch künftige außenpolitische Entscheidungen auf absehbare Zeit vorbestimmen. So wird sich wohl keine Bundesregierung und keine Bundestagsmehrheit mehr einem Kampfeinsatz verweigern können, für den sich die Nato oder die EU entschieden hat. Wenn die Bundeswehr erst einmal interventionsfähig ist, wird der Druck auf die deutsche Politik steigen, das Potenzial auch entsprechend zu nutzen.

Gründe genug, jetzt eine offene und kontroverse Debatte über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr zu führen.

Hinweise:Die populären Blauhelm-Einsätze prägen das öffentliche Bild der neuen Armee. Ein IrrtumDie Bundeswehr soll an zwei Kriegen gleichzeitig und unbefristet teilnehmen können