zoologie der sportlerarten
: PROF. HOLGER HIRSCH-WURZ über den Radprofi

Fressen wie ein Warzenschwein

Der Homo pedalis proficus, altdeutsch: Berufsradfahrer, ist insgesamt ein armer Hund. Wenn andere Menschen noch friedlich an der Matratze horchen, schwingt er bereits sein wund gescheuertes Hinterteil auf einen viel zu kleinen Sattel und radelt hinaus auf den Asphalt, der seine Welt bedeutet. Dort verbringt er tretend, fluchend und schwitzend den Tag, und sein Missvergnügen wird nur dadurch gemildert, dass um ihn herum noch andere gleich gekleidete Unselige strampeln, die ebenfalls das Pech hatten, in ein Dasein als Homo pedalis proficus geworfen zu werden und nun seine Teamkollegen sind.

Der Berufsradfahrer kennt im Wesentlichen zwei Jahreszeiten: die mit Rennen und die ohne Rennen. Finden keine Wettkämpfe statt, trainiert er (siehe oben), finden Wettkämpfe statt, tut er das gleiche wie sonst, nur dass er noch zeitiger aufstehen muss, weil in aller Herrgottsfrühe ein paar Herren vorbeikommen, die ihm Blut und Urin abverlangen.

Der natürliche Feind des Berufsradfahrers ist der Rennveranstalter. Dieser steht längst nicht so früh auf, bringt aber dafür das ganze Jahr damit zu, sich eine Vielzahl von Schikanen auszudenken, mit denen er die Vertreter des Homo pedalicus quälen kann. Unter anderem sind das: Bergetappen, Zeitfahren, mehrwöchige Rundfahrten und vor allem Zeitlimits. Diese verhindern, dass sich der Berufsradfahrer zum Beispiel beim Anstieg auf den Aubisque oder bei Kilometer 35 eines 50 Kilometer langen Bergzeitfahrens sagt: „Ach, was soll’s, ich gewinne ja eh nicht, also mach ich erst mal Pause, gönn mir einen Cappuccino und lass danach ordentlich die Beine hängen.“ Schwupps, ist er über dem Limit, raus aus dem Rennen und kein Homo pedalis proficus mehr, sondern ein simpler Arbeitsloser mit Fahrrad.

Grob lässt sich die Spezies Homo pedalis proficus in zwei Unterarten einteilen: den Homo pedalis proficus superioris und den Homo pedalis proficus domesticus. Letzterer gewinnt nie irgendwas, ist ständig vom Rausschmiss bedroht und muss ackern wie ein Besengter, um am Ende ein paar Mark auf der Kante zu haben. Sein größter Moment kommt, wenn er auf die Schnauze fällt oder seinem Boss mitten im Niemandsland das Rad überlassen muss, weil bei dem irgendeine Speiche klemmt. Dann kommt er ins Fernsehen und der Sponsor merkt sich seinen Namen. Oder auch nicht. Hat er großes Glück, darf er bei einem Fluchtversuch mitmachen, doch wenn er sich dann gerade fühlt wie Induráin und alle Reserven mobilisiert, um nach 13 Profijahren bei der Wallachei-Rundfahrt endlich den ersten Etappensieg seiner Karriere zu erringen, kommt unweigerlich der Mannschaftswagen und gibt ihm Order, sich 30 Kilometer zurückfallen zu lassen, weil der Chef nach seinem Hinterrad verlangt.

Der Homo pedalis proficus superioris gewinnt meist auch nichts, aber er könnte theoretisch, weshalb er außer Treten nichts tun muss. Seine domestici schleppen Wasser, Futter und Fahrräder für ihn an und fangen den Wind ab, damit seine Frisur nicht durcheinander gerät. Wenn er zurückzufallen geruht, warten sie auf ihn, und am Berg schleppen sie ihn so lange hinauf, bis sie ausgepumpt sind wie eine Flasche leer. Dann werden sie „durchgereicht“ und der Chef muss den Rest alleine machen, was ihn meist völlig überfordert, sodass er auch durchgereicht wird. Ist der Chef aber große Klasse und gewinnt tatsächlich mal eine Rundfahrt, teilt er mit ihnen zum Dank immerhin das Preisgeld, es sei denn, er ist Däne und heißt Bjarne Riis.

Das größte Problem des Homo pedalis proficus ist sein ständiger Hunger. Während der Rennsaison frisst er wie ein Warzenschwein und wird trotzdem nie satt, im Winter braucht er einen Schokoriegel oder eine Pizza bloß ansehen, schon nimmt er ein paar Gramm zu und kommt im nächsten Jahr nicht mehr den Galibier rauf. Noch schlimmer ist es, wenn er keinen Appetit hat, denn dann vergisst er zu essen, bekommt einen Hungerast und verliert mit hervorquellenden Augen die Tour de France.

Wenn der Berufsradfahrer die Schnauze voll hat vom Radeln, hört er auf und geht zum Fernsehen, wo er dann fünf Stunden lang ununterbrochen „unglaublich“ schreien darf oder Geschichten von damals erzählt. Ein Mutationsprozess, der oft mit der völligen Verwandlung in den Homo pedalis watterottiensis endet, eine öffentlich-rechtliche Abart des proficus, der wir uns an dieser Stelle lieber nicht eingehender widmen wollen. Schalten Sie einfach mal rein.

Wissenschaftliche Mitarbeit:MATTI LIESKE

Autorenhinweis:Hirsch-Wurz, 32, ist ordentlicher Professor für Human-Zoologie am Institut für Bewegungs-Exzentrik in Göttingen.