Liberal und ambitioniert

Mit ihrem neuen Wirtschaftsprogramm will die russische Regierung das Wirtschaftswachstum um jährlich 5 bis 10 Prozent steigern und das Realeinkommen bis 2010 verdoppeln

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Er fühle sich wie damals im Rigorosum, meinte German Gref, als er das lang erwartete Wirtschaftsprogramm der russischen Regierung vorstellte. Er hätte es nicht sagen brauchen. Gestik und Mimik des Wirtschaftsministers sprachen für sich. Der langwierige Stellungskrieg zwischen Premierminister Michail Kassjanow und Gref als Leiter der von Präsident Wladimir Putin gegründeten Denkfabrik für „strategische Studien“ hat den Ökonomen nachhaltig gezeichnet und das ursprünglich 400 Seiten starke Projekt auf die Hälfte schrumpfen lassen. Den Rest verwässerte der Druck der Lobbyisten.

Dem liberalen Grundton soll es indes nach Ansicht von Experten nicht geschadet haben. Ministerpräsident Kassjanow, um Glaubwürdigkeit bangend, wies den Untergebenen sofort in seine Schranken: „Wir diskutieren hier keine Dissertation, sondern konkrete Maßnahmen eines Regierungsprogramms.“ Es half nichts, der Verdacht, hier werde nur die Meta-Sicht auf die elementaren Probleme der russischen Wirtschaft wiedergegeben, hing im Raum.

Das Programm gliedert sich in zwei separate Teile: eine langfristige Strategie bis 2010 und einen Dringlichkeitsplan, der bis 2002 erfüllt werden soll. Für Aufsehen sorgten vor allem die hoch gesteckten Erwartungen des Langzeitprogramms: Läuft alles nach Plan, soll das Bruttoinlandsprodukt jährlich um 5 bis 10 Prozent wachsen. Das durchschnittliche Realeinkommen würde sich dadurch bis zum Ende der Dekade verdoppeln.

Westliche Ökonomen begegneten dem ambitionierten Vorhaben mit wohlwollender Skepsis. An Absichtserklärungen hat es in Moskau nie gemangelt, am Willen oder an der Fähigkeit zur Umsetzung haperte es meist. Im Vergleich zu früheren Entwürfen geht Gref indes weiter: Die Kritik an Korruption und Ineffizienz der Bürokratie als Hemmnis des Fortschrittes ist einer der zentralen Punkte. Die Strategen fordern eine Umstrukturierung der unteren Ebenen von Regierung und Verwaltungen sowie eine Reform des gesamten Justiz- und Rechtswesens. Auch in der klaren Benennung der Ziele und Fristen hebt sich der Entwurf von seinen Vorgängern ab. „Wenn nur die Hälfte umgesetzt wird, ist das ein Bombenerfolg“, meinte ein russischer Börsianer. Gref dagegen besteht darauf, dass sein Programm nur dann funktioniert, wenn es Schritt für Schritt abgearbeitet wird. Ansonsten werde die Inflation nicht binnen vier Jahren auf unter 10 Prozent gesenkt werden können.

Zu den Modernisierungsmaßnahmen zählt der Umbau des Steuerwesens. Die Steuerprozedur soll vereinfacht und die Abgabenlast gesenkt werden. Die Duma hat dieses Gesetzespaket bereits in Angriff genommen. Darüberhinaus verlangen die Strategen im Energiebereich eine neue Preispolitik. Bisher decken Energiepreise meist nicht einmal die Entstehungskosten. Im Zusammenhang damit wird auch an eine Dezentralisierung der Energiemonopolisten, unter ihnen Gasgigant Gasprom, gedacht. Vorstöße in diese Richtung scheiterten in der Vergangenheit indes regelmäßig an der regierungsnahen Energie-Lobby. Es wäre schon ein Erfolg, wenn es gelingen könnte, die verdeckten Subventionen an den Energiesektor zu kappen.

Ein Vorstoß ist auch im Sozialbereich und im staatlichen Dienstleistungssektor geplant, die noch dem egalitären Prinzip der Sowjetzeit verpflichtet sind. Unabhängig von ihrem Einkommen erhalten alle Bürger bisher die gleichen Vergünstigungen. Ein Villenbesitzer bezahlt für Müllabfuhr und Heizung nicht mehr als der Mieter einer Einzimmerwohnung. In Zukunft soll das Bedürftigkeitsprinzip angewandt werden.

Westlichen Investoren versicherte der Premier, ohne ihre Unterstützung komme Russland nicht aus der Talsohle. Ihnen verheißt das Programm denn auch verstärkte Eigentumsgarantien, Schutz vor Behördenwillkür, transparentere Vorschriften und die Bewilligung von Grund- und Bodenbesitz.

Ebenso will sich Gref einer Sanierung des siechenden Bankenwesens annehmen. Alles in allem, so ein westlicher Geschäftsmann, seien alle Reformen berücksichtigt worden, die IWF und Weltbank seit Jahren propagieren. Der kleine Unterschied: „Diesmal haben die Russen es selbst vorgeschlagen.“

Dennoch ist Skepsis angebracht, denn Hoffnungen auf eine spürbare Verbesserung des Wirtschaftsklimas könnten verfrüht sein. Noch ist der Kampf um den Kurs nicht endgültig entschieden. Experten haben noch zwei Monate Zeit, ihre Kritik am Langzeitprogramm zu äußern, staatliche Institutionen sind angehalten, demnächst konkrete Vorschläge auf der Basis des Maßnahmenkataloges einzureichen. Wenn dabei mehr als Kosmetik herauskäme, wäre das schon ein Wunder.

Trotz aller Vorbehalte steht es um die russische Wirtschaft bereits heute nicht mehr so schlecht. Die Weltbank sorgte in einer ihrer jüngsten Studien für eine Überraschung: Berechnet man das BIP nicht mehr nach den Wechselkursen, sondern auf Grundlage der Kaufkraftparitäten, so gehört Russland inzwischen zu den zehn wirtschaftlich potentesten Staaten der Welt. Das erklärt das russische Wunder zumindest teilweise: Keiner hat Geld, trotzdem lassen es sich alle gut gehen.