Gnadenlose Kontaktaufnahme

■ Du gehst in ein Uni-Seminar, und plötzlich passiert was: Meistens ist das „Theater der Versammlung“ dafür verantwortlich. Dessen Motto: Wir sind immer da, wo wir nicht hingehören

„A, B fett und E äh nein, C1!“: Was sich anhört wie ein Computerbefehl ist auch ein Computerbefehl. Allerdings besteht der Rechner, der sich so herumkommandieren lässt, nicht aus Chips und Platinen. Fünf Schauspieler sind es, die sich bemühen, die Befehle ihres Publikums so gut wie möglich umzusetzen.

Es handelt sich um eine Inszenierung des „Theaters der Versammlung“ in der Bremer Universität. Und dessen Regisseur Jörg Holkenbrink kennt offenbar keine Grenzen: Nachdem er einzelne Szenen verschiedener Eigenproduktionen vorstellte, degradierte er seine Darsteller zu Buchstaben. So kann sich das Publikum gewissermaßen per akustischem Mausklick sein eigenes Theaterstück zusammenstellen. Der gerufene Befehl wird dann wie folgt umgesetzt: Schauspieler A spielt eine der Rollen, die er schon in den zuvor vorgestellten Szenen übernommen hatte. Schauspieler B tut dies gleichfalls, allerdings „fett“; das heißt mit lauter Stimme und ausladenden Gesten. Und Schauspieler C hat den Befehl erhalten, seine letzte Aktion beständig zu wiederholen.

Das mag sich anhören wie ein Spielvorschlag für Kindergeburtstage. In Wirklichkeit aber handelt es sich hierbei um den ganz normalen Probenalltag von Schauspielern: Verschiedene Darstellungsmöglichkeiten einfach so lange durchzuprobieren, bis die beste Variante gefunden wurde. Der einzige Unterschied zum herkömmlichen Schauspiel besteht darin, dass hier während der Vorstellung und mitten auf der Bühne weitergeprobt wird.

Allerdings – Bühne? Die Aufführung findet im Rahmen eines Seminars für Kunstpädagogik statt. Thema: „Künstlerische Ortsbestimmungen.“ Eine Bühne ist in diesem Raum natürlich nicht vorhanden. Doch das sind die Schauspieler gewohnt. Im Gegensatz zu traditionellen Theatergruppen sind sie nämlich immer dort, wo sie eigentlich nicht hingehören: Auf Informatik-Tagungen, Managementkursen oder Kongressen von HistorikerInnen. Dass sie dort doch hingehören, stellt sich erst während der Aufführung heraus.

Dann werden plötzlich Gemeinsamkeiten zwischen dem Alltag von WissenschaftlerInnen oder ManagerInnen und der darstellenden Kunst entdeckt: InformatikerInnen erkennen die Maschine im Menschen, und UnternehmerInnen sehen mit Schrecken, wie ihre scheinbar kühle, geschäftige Fassade als Schutzschild für eine angeschlagene Persönlichkeit entlarvt wird.

Aber ist das überhaupt noch Theater? Oder ist etwa gerade das Theater?

Der interdisziplinäre Dialog, der offensichtlich nur durch ein erzwungenes Aufeinandertreffen der Kontraste erreicht werden kann, hat bis heute weder den Darstellern noch ihrem Publikum geschadet. Anstatt sich hinter Vorurteilen oder scheinbarem Desinteresse gegen andere Berufsgruppen zu verstecken, suchen die Schauspieler gnadenlos den Kontakt. Sie fangen da an, wo viele Kollegen anderer Ensembles in die Kantine gehen, und das Theaterpublikum sich auf den Heimweg begibt.

Freilich erfordert eine derartig publikumsnahe Form des Theaterspiels ein hohes spielerisches Niveau. Vielleicht aber ist es auch umgekehrt, und das Niveau hebt sich durch die erzwungene Nähe ganz von allein. Die Darsteller werden dem erforderten Niveau jedenfalls vollauf gerecht. Das ist allein daran zu ermessen, dass sie mit der Komik die anspruchvollste Form des Schauspiels beherrschen.

Johannes Bruggaier

Kontakt zum „Theater der Versammlung“ kann man herstellen über Tel.: 218 31 32