Im Dienst des großen Zusammenhangs

Auf 150 CDs dokumentiert der Deutsche Musikrat die Musikgeschichte der letzten 50 Jahre. Ein Museum fürs Wohnzimmer – aber wer braucht das?

Im Zweifelsfall ließe sich jemand damit erschlagen: Auf einschüchternden 150 CDs will der Deutsche Musikrat die Entwicklung der zeitgenössischen Musik im Deutschland der vergangenen 50 Jahre dokumentieren, die ersten dreizehn CDs der Reihe sind jetzt erschienen. Die treibende Kraft der Edition ist freilich nicht marktwirtschaftliches Kalkül, sondern kulturpolitisches Engagement: Für den Inhalt verbürgt sich der Deutsche Musikrat, die Finanzierung belastet den Etat des Kulturstaatsministers Michael Naumann, den Vetriebt besorgt die BMG.

Der Schwerpunkt liegt bei der Konzertmusik: Vierzehn der neunzehn CD-Boxen, die jeweils zwischen fünf und zehn Tonträger umfassen, werden sich zwischen dem Saal und der Kammer einrichten. Das Musiktheater erhält immerhin noch vier solcher Schachteln, während die Bereiche Jazz und populäre Musik mit je einer CD-Box etwas abgeschlagen wirken – aber dass man sie im akademisch orientierten Musikrat überhaupt beachtet, ist schon ein Fortschitt.

Nahe liegende Frage: „Wer braucht das?“ Editionsleiter Frank Schneider ist sich des Dilemmas durchaus bewusst: Zum einen praktiziere man einen diktatorischen Zugriff auf die Geschichte, der bestenfalls fünf Prozent der gesamten Musikproduktion berücksichtigt. Gleichzeitig erfülle man einen demokratischen Auftrag. Denn selbst diese Marge bedeute, dass immer noch das Vielfache dessen erhalten bleibe, was der Markt aus vergangenen Jahrhunderten für die Gegenwart zu konservieren verstand.

Das Projekt präsentiert sich durchaus selbstbewusst und modern, trägt jüngsten wissenschaftlichen Entwicklungen Rechnung und sichtet das weite Terrain aus der wirkungsgeschichtlichen Perspektive. So kommt es, dass etwa György Ligeti, als gebürtiger Ungar und Wahlhamburger, mit einer gewissen Selbstverständlichkeit Berücksichtigung findet. Und auch Komponisten wie der Franzose Olivier Messiaen oder der Italiener Luigi Nono, die das hiesige Komponieren entschieden geprägt haben, werden nicht übersehen.

Ideologisch entspannt zeigt man sich auch im Umgang mit der deutschen Teilung. Von wenigen Seitenhieben auf die DDR abgesehen, werden vor allem Parallelen herausgekehrt, die unter opponierenden ästhetischen und institutionellen Voraussetzungen dennoch entstanden: Friedrich Schenkers „Landschaften für großes Orchester“ (1974) als mögliches ostdeutsches Pendant zu Bernd Alois Zimmermanns „Stille und Umkehr“ (1970); die Musiktage in Donaueschingen als Spiegel der Ostberliner Musik-Biennale.

Problematisch erscheint dagegen die Auswahl der Tondokumente. Großspurig angekündigte exklusive Neueinspielungen sind auf den ersten Veröffentlichungen nicht enthalten; und seitens des Musikrats gesteht man ernüchtert, dass es wohl auch auf lange Sicht keine geben wird. Stattdessen hat man die Archive der Plattenfirmen und Rundfunkanstalten durchstöbert und ist dort, neben vielen Aufnahmen, die der Tonträgermarkt ohnehin bereit hält, gelegentlich in deren tiefere Schichten vorgedrungen. Zu den Kuriosa zählen Szenen aus Carl Orffs „Bernauerin“, vom Komponisten mit ungehobelter Virtuosität vorgetragen, oder Mitschnitte von Brecht-Eisler-Premieren aus dem Berliner Ensemble. Andere Werke wurden regelrecht gerettet: Walter Zimmermanns derb hinkende „Ländler-Topographien“ (1978/79), Ruth Zechlins brachiales „Situationen für Orchester“ (1980) oder Nicolaus A. Hubers zerbrechliches „Trio mit Stabpandeira“ (1983) hätten das Licht der Welt so schnell wohl nicht wieder erblickt.

Das größte Manko der Auswahl liegt in der oft unbefriedigenden Stückelung: Viele der Stücke sind nur in Ausschnitten wiedergegeben. Um den Genuss des Einzelwerks sollte es, so Frank Schneider, allerdings auch nicht gehen: 50 Jahre Operngeschichte lassen sich schlicht nicht mit einer einzigen fünfstündigen Oper abhandeln. Wie Exponate reihen sich deshalb Klangbeispiele an Klangbeispiele, das einzelne Werk steht immer im Dienste eines größeren und allgemeinen Zusammenhangs. Man kann es wenden, wie man will: Am Ende kommt immer ein Museum dabei heraus. Das mag noch so gut gemeint sein, man möchte es sich deshalb noch lange nicht ins Wohnzimmer stellen.

Dem Normalverbraucher empfehlen sich daher vor allem jene Tonträger, die ein einzelnes Phänomen schlagartig beleuchten: etwa die Vertonungen der pechschwarzen Texte Paul Celans, die radikale ästhetische Lösungen regelrecht provozierten.

BJÖRN GOTTSTEIN