Ohne Betäubungsmittel

Claudia Berl wurde nach einem sexuellen Abenteuer schwanger. Den Mann will sie nicht als Vater. Sie entscheidet sich für einen Abbruch – mit dem Medikament Mifegyne. Ein Erfahrungsbericht aus Berlin

von JULIA NAUMANN

Es ist nur so groß wie die Hälfte eines Fingernagels. Sieht aus wie ein Stück Schleim. Eine verklumpte blutige Zelle. Von der Gebärmutter ausgestoßen, liegt sie in der Binde. Das kleine Häuflein kann einfach so die Toilette hinuntergespült werden.

Sie hat alles genau mitbekommen. „Ich wollte das so“, sagt Claudia Berl (Name von der Redaktion geändert). „Ich wollte mich mit dem Abbruch ganz bewusst auseinander setzen.“ Es sollte in einem frühen Stadium der Schwangerschaft passieren, „denn um so größer es geworden wäre, um so schrecklicher wäre die Abtreibung gewesen.“

Dass sie irgendwann einmal eine Abtreibung haben würde, das hätte sich die 28-Jährige vor ein paar Monaten nicht träumen lassen. Ungewollt schwanger sein, das passt so gar nicht zu ihrem Leben, das sie als „selbstbestimmt“ bezeichnet. „Ich weiß eigentlich immer genau, was ich will und was nicht.“ Eigentlich. Ihr Privatleben ist ausgefüllt. Die große schlanke Frau mit den dunklen langen Haaren treibt viel Sport. Schwimmt, joggt. Wohnt im Grünen, weil sie die Stadt nicht erträgt.

Einen Liebespartner hat sie nicht. In dieser Hinsicht läuft nichts. So wenig, dass Claudia drei Jahre keinen Sex hatte. Im Kopf war kein Platz für eine Beziehung oder auch nur für einen One-Night-Stand. „Ich fand das nicht schlimm, es war einfach so.“ Sie habe nicht wirklich etwas vermisst, sagt sie. Doch überzeugt klingt das nicht.

Denn sonst wäre die Begegnung mit Markus Schwarz vielleicht ganz anders verlaufen. Markus ist der Exfreund ihrer Kusine. Die beiden sind frisch getrennt, als Claudia ihn auf einer Party kennen lernt. Sie fühlt sich angezogen, ist auf einmal ganz sehnsüchtig. Beide unternehmen viel zusammen. Ziehen um die Häuser. Heimlich, denn Familie und FreundInnen sollen nichts davon mitbekommen. Und dann passiert es. Eines Abends ist klar, dass Markus nicht mehr nach Hause gehen wird.

„Natürlich habe ich Kondome gehabt“, erzählt Claudia und guckt ganz empört, als ob man sie für ein bisschen naiv hält. Doch als beide nackt beieinander liegen und die Verhütungsfrage zwischen Küssen und Streicheln aufkommt, wischt sie alle Vorsichtsmaßnahmen beiseite. Markus murmelt etwas von „Rausziehen“ und dass er das seit zehn Jahren „praktiziere“. Ein gutes Angebot – denn einen Gummi rüberzustreifen kann schon manchmal ganz schön kompliziert sein. Besonders wenn man sich noch nicht gut kennt.

Dabei hätten bei ihr sämtliche Alarmglocken schrillen müssen. Claudias Kusine hat von Markus bereits ein Kind. Es ist ungewollt entstanden. Durch Coitus Interruptus. Doch ohne Markus in ihrem Bett wird Claudia klar, dass sie durchaus schwanger sein kann. Es ist der vierzehnte Tag nach ihrer letzten Periode. Warum sie nicht zum Kondom gegriffen hat? „Unterbewusst will ich ein Kind. Vielleicht hatte ich deshalb dieses Blackout.“

Eine Woche später ist Claudia bereits bei der Frauenärztin. Ihre Brust spannt, fühlt sich praller an als sonst. Sie erzählt der Gynäkologin, dass sie befürchte, schwanger zu sein. Und tatsächlich ist der Test positiv, auf dem Ultraschall ist aber noch nichts zu sehen. „Die Ärztin war absolut kalt“, erinnert sich Claudia Berl. „Als ich sagte, dass ich kein Kind wolle, meinte sie nur, man müsse erst die Herztöne hören, dann könne man abtreiben.“ Auf die Abtreibungspille, die Alternative zum chirurgischen Abbruch, weist die Ärztin nicht hin.

Perplex fährt Claudia nach Hause. Schwanger. Abtreibung. Kind. Diese drei Gedanken rasen immer wieder durch ihren Kopf. Dann Markus. Wir haben ja gar keine Beziehung. Und: Er hat ja schon ein Kind. Von meiner Kusine. Was will ich? Was soll ich tun? Als Claudia ihm später am Telefon von der Schwangerschaft erzählt, muss er sich erstmal vor Schreck auf einen Stuhl setzen, erinnert sie sich mit Genugtuung. Und dann bekennt er Farbe. Er werde zu ihr stehen, für das Kind sorgen, wenn sie es wolle, verspricht er ihr.

Nach dem Telefonat ist Claudia wütend. Auf diesen Mann, der sie eingelullt hat, dass nichts passieren würde. Auf sich, dass sie so dumm war, auf ein Kondom zu verzichten. Gerade sie, die immer pflichtbewusst, immer korrekt ist. Und sich jetzt so widersprüchlich verhält. Der heimliche Kinderwunsch, der jetzt erfüllt werden könnte, geht ihr durch den Kopf.

Claudia wird nach dem Telefonat klar, dass Markus nicht der passende Mann ist. „Mit ihm kann ich mir ein Leben nicht vorstellen“, sagt sie schlicht. Sie will nicht die zweite Frau in seinem Leben sein. Sich als allein erziehende Mutter durchzuschlagen, kommt für Claudia ebenfalls nicht in Frage. Deshalb bleibt nur noch eines übrig: Abtreibung. Möglichst schnell. Möglichst unkompliziert. Möglichst selbstbestimmt. Claudia möchte sich nicht „einem Arzt ausliefern“, der mit technischem Gerät zwischen ihren Beinen herumdoktert.

Claudia hat in den Zeitungen gelesen, dass in Deutschland seit kurzem die Abtreibungspille zugelassen ist. Doch wie sie genau funktioniert, wo es sie gibt, weiß sie nicht. Eigentlich müsste es in einer Millionenstadt wie Berlin ein Leichtes sein, eben dies herauszufinden. Doch dem ist nicht so. Beim sozialmedizinischen Dienst, wo sie auch den zum Abbruch nötigen Beratungsschein bekommt, verweisen die Mitarbeiterinnen sie weiter an Pro Familia. Die geben ihr dann schließlich die Telefonnummer von „Balance“ – einem Familienplanungszentrum, das inmitten von Plattenbauten im Bezirk Lichtenberg liegt. Dort werden sowohl medikamentöse als auch chirurgische Abbrüche angeboten.

Mit etwas mulmigem Gefühl, aber fest entschlossen, entscheidet Claudia sich nach einem Beratungsgespräch bei „Balance“ für die Abtreibungspille, „obwohl ich Medikamente eigentlich hasse“. Claudia hofft, dass die Pille ihrem Körper besser tut als eine Absaugungsmaschine, natürlicher ist. Sie will den Abbruch bewusst erleben, keine auch noch so kurze Narkose bekommen, die nicht nur den Körper, sondern ihrer Meinung nach auch die Gefühle betäubt. „Dadurch würde ich alles verdrängen“, glaubt sie. Nur so werde ihr ein solcher Fehler nicht mehr unterlaufen. Es hört sich ein bisschen nach Selbstbestrafung an.

Fast zwei Tage zieht sich der medikamentöse Abbruch hin. Und die verbringt sie zweifelnd; es wird für sie eine Zeit, die sie heftig grübelnd und nachdenkend lebt. Sie hat sich zwar entschieden, das Kind nicht zu bekommen, weil sie den Mann nicht will und weil es nicht passt. Doch der untergründige Kinderwunsch begleitet sie die ganze Zeit über.

Genau fünf Wochen nach ihrer letzten Blutung, am 33. Tag nach der Befruchtung, bricht Claudia die Schwangerschaft ab. An einem Mittwochabend bekommt sie die erste Tablette, Mifegyne. Das Medikament blockiert das Schwangerschaftshormon Progesteron und bewirkt, dass der Embryo von der Gebärmutter abgestoßen wird.

Nach der Einnahme geht sie nach Hause. Am nächsten Tag arbeitet sie. Ihre Stimmung schwankt an diesem Tag ständig. „Einerseits war ich erleichtert, andererseits traurig.“ Claudia fühlt sich so, als ob sie kurz vor ihrer Periode sein würde. „Da bin ich auch immer ganz empfindlich.“ Sie blutet ein bisschen, dann ist ihr etwas flau im Magen, dann hat sie einen Riesenappetit.

Am Freitagmorgen fährt Claudia wieder nach Lichtenberg. Eine Krankenschwester empfängt sie in einem freundlichen, hell gestrichenen Raum mit vielen Polstern zum Hinlegen und Kuscheln. Kekse und Tee stehen bereit. Wie es ihr ergangen sei, fragt sie. Claudia, blass um die Nase und ziemlich nervös, freut sich über die Nachfrage. Sie hat in den vergangenen Tagen nicht über den Abbruch geredet.

Außer Markus weiß niemand Bescheid. Doch der ist nicht mitgekommen. „Das wollte ich nicht.“ Da klingt sie wieder ganz selbstbestimmt. Claudia sprudelt noch einmal die ganze Geschichte hervor. Sie erzählt von dem Versteckspielen, dass niemand wissen darf, dass sie schwanger ist. Von ihrem „eigentlichen“ Kinderwunsch. „Das ist eine schwierige Situation“, sagt die Schwester und klingt auch etwas hilflos. Doch einen Rückzieher kann Claudia sowieso nicht mehr machen.

Würde sie sich entschließen, nach der ersten Mifegyneeinnahme das Kind doch auszutragen, könnte es geschädigt sein. Die Arzthelferin schiebt ihr drei Wehen auslösende Prostaglandintabletten über den Tisch. Die soll sie in die Scheide einlegen.

Sie legt sich auf eines der Polster und wartet. Nach zwei Stunden bekommt Claudia heftige Krämpfe, die sie als „geburtsähnlich“ empfindet. Die Krankenschwester kommt immer wieder ins Zimmer, gibt ihr ein bisschen Tee, streichelt ihr über den Kopf. Die Schmerzen sind eher unüblich, die Mehrzahl der Frauen, die mit Mifegyne abgetrieben haben, charakterisieren die Schmerzen als „starke Regelblutung“.

Nach vier Stunden geht Claudia auf die Toilette und sieht den Schleim und die winzige Frucht in ihrer Unterhose. Sie fasst sie an – eine kleine runde Kapsel mit einer harten Außenschicht.

Zwölf Tage später: Ihr geht es gut – das betont Claudia immer wieder. Sie arbeitet, macht schon wieder Sport. Das normale, vertraute Leben. Sie habe keine Schmerzen mehr, nur noch leichte Blutungen. Es sei die richtige Entscheidung gewesen und auch die richtige Methode. „Dadurch wird so etwas nicht noch einmal passieren“, sagt sie wieder. Mit Markus hat sie sich ausgesprochen. Sie kann sich jedoch nicht vorstellen, noch einmal mit ihm zu schlafen. Auch nicht mit Verhütungsmitteln. „Ich habe mit einem Lebensabschnitt abgebrochen. Das ist vorbei.“

JULIA NAUMANN, 30, arbeitet seit 1996 als Redakteurin im Berliner Lokalteil der taz