Abhängen in der Hasenheide

Berlin im Sommer: Kaum Eingeborene, viele Touristen und zu viele Paraden. Das Gebot der Stunde lautet, den Amüsierterror einen guten Mann sein zu lassen und konsequent nichts zu tun

von DETLEF KUHLBRODT

Wenn man kein Geld hat, bleibt man den Sommer über in Berlin. Das hat Vor- und Nachteile. Nachteilig ist die generelle Schwierigkeit, sich dort zu „erholen“, wo man auch sonst lebt; vorteilhaft dagegen, dass Berlin, wie wahrscheinlich jede Stadt, im Sommer am angenehmsten ist.

Ob das auch damit zu tun hat, dass Berliner im Sommer ihre Stadt zu verlassen pflegen und ihr Platz dann von Touristen eingenommen wird, sei mal dahingestellt – diese Ansicht ist unter Berlinern zwar verbreitet, aber nicht ganz so, wie die Ansicht, Touristen seien eine lästige Plage, zu der man neigt, wenn es einen in die westdeutschlandisierten Zentren in Mitte und Prenzlauer Berg verschlägt, wo „Müller Lüdenscheidt“ genannte Lokale beredtes Zeugnis von der Geistesverfassung der Westdeutschen ablegen und in bestimmen Bereichen (Oranienburger Straße/Hackescher Markt) auf 9.000 Sitzplätze in Kneipen 7.300 Einwohner kommen. Die Ostdeutschen dagegen neigen eher zu „Kultbands“ wie „Mundstuhl“, für deren letztes Kultalbum neulich auf Sat.1 geworben wurde.

Positiv im Berliner Sommer ist in jedem Fall, dass man keine Kohlen aus dem Keller holen muss. Negativ dagegen, dass sich Jahr für Jahr im Berliner Sommer die Amüsierangebote vermehren. Das nervt vielleicht! Jede Woche irgendeine Skaternight, alle zwei Wochen eine große Parade, auf der die Leute immer live in echt und im Fernsehen ihre bescheuertes Gutdraufsein und ihre abgeschmackte Kreativität demonstrieren. Künstler, Dichter, Schauspieler; Gauklerfeste am Mercedes-Benz-Platz; Amüsierzwang aller Orten und mittendrin: ein großer Sat.1-Ballon, der seit zwei Monaten als Wahrzeichen der Stadt über dem Brandenburger Tor schwebt. Namen verdienter Kommunisten aus dem Stadtbild entfernen, aber die großen Plätze ans Privatfernsehen verkaufen – so sind die Politiker hier! Wenigstens die PDS war dagegen und wird dafür ab sofort abonniert!

Warum ist Sein und nicht vielmehr Nichts, hatte Martin Heidegger sich früher mal in Freiburg gefragt. Besser als etwas ist es in den meisten Fällen, nichts zu tun. Den Konsum- , Arbeits- und Amüsierterror einen guten Mann sein lassen. Rumhängen! In Wohnungen oder wenn es zu heiß ist, wie oft im Berliner Sommer, also ab 33° ungefähr, im Neuköllner Volkspark Hasenheide, dem proletarischsten, wenn man so will in Berlin. Im halb versteckten Rhododendronhain in der Hasenheide kann man am besten abhängen. Der Rhododendronhain ist ein kleiner, angenehm zurückhaltend zivilisierter Park mit vielen großen Bäumen, Sträuchern, Gebüschen und hell zwitschernden Vögeln. Ab und an hört man von weitem die Stimme des Bademeisters vom Freibad am Columbiadamm, Kinderkreischen und Straßenverkehr und manchmal auch etwas, was wie beifälliges Raunen im Fußballstadion klingt und von einem Gewerbebetrieb an der Neuköllner Seite herrührt. Der Lärm bleibt jedoch im Hintergrund, und man kann ausgezeichnet Bücher lesen oder versuchen, nichts zu denken. Nur selten kommen Leute vorbei, obwohl oder weil es so heiß ist. Die wenigen, die man sieht, haben lange graue Haare und Jonglierbälle in Neonfarben dabei, sind grad angedichtet oder nette Omas, die „Hilfe“ sagen, wenn ihnen die Hitze zu sehr zusetzt. Manche wollen einem auch Cannabisprodukte verkaufen. Man hört ja immer wieder, dass das gesund sein soll und mehr. Heiner Müller sagte zum Beispiel: „Die Droge ist der Verbündete des Menschen im Kampf gegen die Maschine. Denn Drogen bedeuten Zeitgewinn für das Subjekt, Maschinen bedeuten Zeitverlust.“ Wie auch immer – die einzige durchgehend erfreuliche Parade, die einzige auch, für die die Berlinpropagandabteilung nicht wirbt, ist die Hanfparade und findet am 19. August auf der zentralen Berliner Parademeile statt.

Auf dem alten Baum im Rhododendronhain stehen Nachrichten: „Es tut uns leid“, „Eine Blume für Nadja, schönste, beste und aber schwierigste Frau der Welt und Umgebung“ (mit gemalter Sonnenblume). Auf der Bank steht: „Sabrina und Nadja waren hier und kommen wieder.“ Die Nachricht war von gestern. Die ganze Stadt wimmelt von solchen Nachrichten, und man überlegt sich, eine Hyperkarte von Berlin zu entwerfen. Wenn man die Hasenheide anklicken würde, würde ein Foto mit den eben erwähnten Nachrichten erscheinen. Von Nadja gäbe es dann Links zu anderen nadjarelevanten Graffitis, Telefonbucheintragungen, Zetteln, die auf dem Boden oder in Berliner Papierkörben liegen. Dies Projekt ist urheberrechtlich geschützt!

Der Rest des Parks wird von bewaffneten Kräften kontrolliert, die aussehen wie eine Jugendgang, wenn sie zu viert nebeneinander patrouillieren. Autos haben sie auch dabei, Pferde ab und zu, und alle rennen weg, wenn sie kommen. Manche wehren sich allerdings auch, wenn sie wegen zwei Joints von den Wegelagerern belästigt werden, wie neulich in der Zeitung stand. Da hatten die umherschweifenden Grünen, deren parlamentarische Vertreter ihre angestammte Leistungsverweigerer-Klientel immer dreister verraten, dann doch mal schön was auf die Mütze gekriegt. Und man denkt, dass man bestimmt mal in der Hasenheide übernachten würde, wenn man Tramper wäre. Als Berliner traut man sich's leider dann doch nicht.