Die multikulturelle Realität der Stadt

Alltag für in Berlin lebende Ausländer: Der Peruaner Ciro Chávez ist von Abschiebung bedroht. Die Ukrainerin Irina Komarova darf trotz Attestnicht bleiben. Eine Türkin kann trotz Einsernoten nicht aufs Gymnasium

Berlin präsentiert sich gern als multikulturelle Stadt. Der Karneval der Kulturen fand erst vor wenigen Wochen 500.000 begeisterte Zuschauer. Doch wenn die Menschen ihre Kostüme ablegen, beginnt der Alltag. Die taz präsentiert drei Fälle.

Der Karnevalist im Abschiebeknast

Seine Karnevalsgruppe, die „Comparsa Colombia“, erhielt beim diesjährigen Karneval der Kulturen den Preis für die zweitbeste Gruppe. Ciro Chávez spielte an jenem Pfingstwochenende den Krokodilmann, eine traditionelle Figur des karibischen Karnevals. Der gebürtige Peruaner trug ein mehrere Meter langes Kaimankostüm durch Kreuzberg. An der Konzeption der preisgekrönten Masken und Kostüme der Gruppe hatte der 42-Jährige entscheidenden Anteil. Doch jetzt will die Innenverwaltung dem hombre caimán ans Leder: Die Behörde plant, Chávez abzuschieben.

Nach dem karibischen Mythos taucht der Krokodilmann aus dem Wasser auf, um sich in einen gut aussehenden Jüngling zu verwandeln und das schönste Mädchen des Dorfs in sein Reich der Tiefe zu entführen. Am Donnerstag ist Chávez selbst „entführt“ worden: Polizeibeamte hatten den Peruaner, der bei der Comparsa Colombia für die bildhauerische Leitung verantwortlich ist, im Morgengrauen bei einer Hausdurchsuchung in Kreuzberg ohne gültige Papiere angetroffen. Statt im Reich der Tiefe landete der Krokodilmann wenige Stunden später in der Abschiebehaft in Köpenick. Bis zum Abend wurde Chávez, der vor etwa zwei Monaten über die Schweiz nach Deutschland eingereist ist, keinem Haftrichter vorgeführt.

Chávez hat einen Antrag auf Asyl gestellt, den er mit individueller politischer Verfolgung in Peru begründet. In Berlin hat er eine 12-jährige Tochter. „Seine Abschiebung wäre ein herber Verlust für uns“, sagt Stefan Knoblich von Comparsa Colombia. Die Gruppe will das Schicksal ihres Mitarbeiters jetzt in einen Film mit einfließen lassen, der die Vorbereitungen auf den Karneval sowie das Leben der Beteiligten als Migranten in Berlin dokumentiert. Dabei will man auch versuchen, eine Drehgenehmigung für die Abschiebehaftanstalt in Köpenick zu bekommen.

Für Rechtsanwalt Christoph von Planta, der den Peruaner vertritt, zeigt dieser Fall, „wie schwierig es selbst für Künstler ist, die auf dem Karneval hofiert werden, in Deutschland Tritt zu fassen“. Die Senatsinnenverwaltung gibt zu einzelnen Abschiebefällen keine Stellungnahme ab. Klar ist jedoch: Nur zu gerne rühmt sich Berlin mit Veranstaltungen wie dem Karneval der Kulturen. Dieser sei, so der grüne Kreuzberger Bezirksbürgermeister Franz Schulz, eine „eindrucksvolle Werbung für die Einwandererstadt Berlin“. SAND

Das Trauma durch die ärztlichen Atteste

Sie hat panische Angst vor Krankenhäusern. Vor Ärzten. Vor medizinischen Geräten. Irina Komarova ist mit ihrem Ehemann vor zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Die heute 39-Jährige ist im Juni 1990 über Polen in die damalige DDR eingereist. Hat einen Asylantrag gestellt. Der Grund: Sie wurde in ihrer Heimatstadt Odessa, die damals zur Sowjetunion und heute zur Ukraine gehört, massiv diskriminiet. Mitte der 80er-Jahre wurde sie zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen. Später wurde die Frau koreanischer Abstammung mehrere Male auf der Straße tätlich angegriffen.

Ihr Asylbegehren wurde 1996 jedoch abgewiesen. Der Grund: sie sei nicht „in einer ausweglosen Lage“, sie könne zurück in ihre Heimat gehen. Komarova erhielt daraufhin eine Duldung, die immer wieder verlängert wurde. Sie wandte sich an den Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses. Dieser kümmert sich unter anderem um besonders prekäre Fälle von bevorstehenden Abschiebungen. Der Ausschuss empfahl im März 1999, der Frau ein Bleiberecht aus humanitären Gründen zu erteilen. Doch die Ausländerbehörde wollte dies nur zulassen, wenn Komarova nachweise, dass sie auf Dauer reiseunfähig sei. Komarova, die seit Jahren in psychiatrischer Behandlung ist, ging zur Amtsärztin des Bezirksamts Wilmersdorf. Für die Musiklehrerin ein großer Kraftaufwand, wie ihr Rechtsanwalt Peter Meyer sagt, denn Komarova habe einen „absoluten Horror“ vor Ärzten. Die Amtsärztin stellte ihr ein Attest aus, doch das wollte die Ausländerbehörde nicht akzeptieren. Sie forderte ein Gutachten des umstrittenen Polizeiärztlichen Dienstes an. Ärzte, Psychologen und Verwaltungsrichter werfen Polizeimedizinern vor, traumatisierte Flüchtlinge politisch motiviert und fachlich falsch zu begutachten. Komarovas behandelnde Ärztin schlug vor, den Polizeiärztlichen Dienst in ihre Praxis kommen zu lassen. Ein Gang zur Behörde sei der Frau nicht zumutbar. Die Ausländerbehörde hat bisher nicht reagiert. „Hier wird auf Prinzipien herumgeritten“, kritisiert Rechtsanwalt Meyer, „und damit die Frau vollends kaputt gemacht.“ Die Innenverwaltung wollte zu dem Fall keine Stellungnahme abgeben. NAU

Die stigmatisierte Grundschule

Ihre Tochter hat lauter Einsen und Zweien im Zeugnis, und trotzdem ist ihr nach der 6. Klasse der Zugang zum Gymnasium verwehrt geblieben. Denn sie ist Türkin und hat die Neumark- Grundschule in Schöneberg besucht. Ihre Mutter, die an der Schule einen Deutschkurs besucht, ist enttäuscht und sauer. „Unsere Kinder haben später keine Chance, wenn sie auf dieser Schule sind“, sagt sie.

Das bestätigt auch die grüne Bezirksbürgermeisterin Elisabeth Ziemer, die den Mütterkurs im Rahmen der „Metropolentour“ des grünen Landesvorstandes besucht (siehe Seite 26). Wer auf diese Schule geht, ist stigmatisiert, so Ziemer. Die Lehrer seien überfordert, selbst engagierte Lehrkräfte hätten resigniert.

Erst vor zwei Jahren wurde der Bezirk auf die Zustände an der Schule aufmerksam. Das Landesschulamt stellte damals fest, dass die Deutschkenntnisse der Schulanfänger aus Migrantenfamilien immer schlechter werden. Der Schlüssel zur Lösung des Problems sind die Mütter: Viele werden zur Heirat direkt aus der Türkei geholt und sprechen auch nach Jahren nur wenig Deutsch. Die Folge: Zu Hause wird Türkisch gesprochen. Die Deutschkurse für Mütter, die 1998 in Schöneberg begannen, sind jetzt auf Neukölln, Tiergarten, Kreuzberg und Wedding ausgedehnt worden. Die Kurse an 50 Schulen werden von fast 2.000 Teilnehmerinnen besucht.

Die Bedenken, dass die Frauen nur schwer für die Kurse zu motivieren sind, haben sich als völlig unbegründet erwiesen. Die Nachfrage ist größer als das Angebot. „Ich kann jetzt auf meinen eigenen Füßen stehen“, sagt eine 32-jährige Teilnehmerin stolz. Jetzt könne sie selbst zu den Elternabenden gehen. Eine andere hofft, bald eine Arbeit zu finden. Außerdem wünscht sie sich ein Begegnungszentrum für Deutsche und Migranten. Die Türkinnen hätten gerne mehr Kontakt zu Deutschen, doch die haben kein Interesse, ist ihre Erfahrung. Doch zurückziehen würden sie sich deswegen nicht. WIN