Allzu lückenhaftes Mosaik

Ein Lexikon erinnert an die jüdischen Schriftsteller in der deutschsprachigen Literatur: 270 Autorinnen und Autoren stellt es vor. Das ist eine gute Sache. Nur: Der Band ist leider unvollständig. So unvollständig, dass er dringend der Erweiterung bedarf

von WILFRIED WEINKE

Nach der deutschen Judenverfolgung hat es nicht an Bemühungen gefehlt, an jüdische Schriftsteller und deren Beitrag zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts zu erinnern. Nicht zuletzt Marcel Reich-Ranicki gab seinem 1989 veröffentlichten Buch über „Juden in der deutschen Literatur“ den sprechenden Titel „Über Ruhestörer“. Zu ihnen zählte er nicht nur Ludwig Börne und Heinrich Heine, sondern besonders jene, die wie Jurek Becker, Erich Fried, Jakov Lind und Peter Weiss nach 1945 zu Wort und Stimme fanden. Und da dank der Veröffentlichungen solcher Autoren wie Maxim Biller, Barbara Honigmann, Gila Lustiger, Robert Menasse, Rafael Seligman die deutsch-jüdische Literatur kein abgeschlossenes Kapitel deutscher Kultur darstellt, gibt es gute Gründe, interessierten Laien und neugierigen Lesern einen Überblick anzubieten.

Nichts weniger beabsichtigt das „Lexikon deutsch-jüdischer Autoren“. Neunzig Wissenschaftler behandeln in 270 Porträts „die deutschsprachige Literatur jüdischer Autorinnen und Autoren von der Aufklärung bis zur Gegenwart“. Doch so erfreulich wie nützlich ein so ambitioniertes Lexikon sein kann, so bedauerlich ist dessen Realisation.

Das beginnt schon bei der wissenschaftlich gespreizten Einleitung des Herausgebers Andreas B. Kilcher. Und andere Mängel wiegen noch schwerer. Auch wenn der Herausgeber darauf hinweist, dass Vollständigkeit nicht angestrebt wurde und die einzelnen Porträts „allenfalls als Bausteine einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte“ gelesen werden können, bleibt das angestrebte Mosaik in vielerlei Hinsicht lückenhaft. So hätte man sich neben den Abhandlungen zu Martin Buber und Theodor Herzl auch ein eigenständiges Porträt des Philosophen Constantin Brunner und seines Buches „Der Judenhaß und die Juden“ gewünscht.

Das Fehlen dieses einen Autors zu beklagen wäre beim Umfang des Lexikons nachgerade beckmesserisch. Doch es ist die Auslassung so mancher anderer Emigranten und Remigranten jüdischer Herkunft, die so erstaunt wie enttäuscht. So vergaß der Herausgeber den 1949 in New York verstorbenen Rechtsanwalt und Schriftsteller Martin Beradt. Sein Roman „Die Straße der kleinen Ewigkeit“ über das ostjüdisch geprägte Scheunenviertel in Berlin erschien postum 1965 im Frankfurter Scheffler Verlag. Ebenso unerwähnt: die Autoren Salamon Dembitzer, Iwan Heilbut und Heinz Liepman. Die Widmung von Liepmans 1933 im Exil veröffentlichten Buch „Das Vaterland“ galt den in Hitler-Deutschland ermordeten Juden. 1961 erschien seine Broschüre „Ein deutscher Jude denkt über Deutschland nach“, seine Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Philosemitismus nach 1945.

Ärgerlich wird die Lektüre dieses fast 700 Seiten umfassenden Lexikons aber, vergegenwärtigt man sich das Verschweigen so mancher Autorin. Elias Canetti, schön und gut. Aber kein Wort zu seiner Frau Veza Canetti (1897 – 1963). Neben die Ausführungen zu Alfred Kerr hätte sehr gut ein Porträt der Tochter Anna-Judith Kerr gepasst, schildert sie doch nicht nur in dem mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichneten Buch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ das unfreiwillige Exil (auch ihrer Eltern). Folgt man überdies nicht der fragwürdigen Trennung von Jugend- und Hochliteratur, fällt das Fehlen der in Auschwitz ermordeten Schriftstellerinnen Ruth Rewald und Else Ury unangenehm auf. Und wenn Prag sowie außereuropäische Schreiborte des Exils wie Mexiko in der Einleitung ausdrücklich hervorgehoben werden, bleibt zu fragen, warum die in Prag geborene und nach dem Exil in Mexiko wieder in Prag lebende Lenka Reinerova unerwähnt bleibt. Ebenfalls ungenannt: die nach Holland geflohene Elisabeth Augustin und die in Italien verstorbene Ruth Tassoni. So sehr man sich über das Porträt zu Gabriele Tergit und die Einbeziehung jüngster Neuveröffentlichungen freut, so sehr verärgert die fehlende Würdigung ihres 1951 erschienenen Romans „Effingers“, einer Familienchronik, die nicht zu Unrecht als „jüdisches Äquivalent“ zu den „Buddenbrocks“ bezeichnet wurde.

Nein, das von Andreas Kilcher herausgegebene „Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur“ bedarf dringend der Überarbeitung und Erweiterung.

Andreas B. Kilcher (Hg.): „Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart“. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar 2000, 664 Seiten, 78 DM