DIE FREISPRÜCHE FÜR HÄBER & CO. ENTLARVEN JUSTITIAS VERWIRRUNG
: Kein bisschen Totschlag

Justitia ist gestern in Berlin um die Ecke gebogen. Freispruch entschied sie diesmal, da es vorm Landgericht gegen die drei SED-Politbüromitglieder Siegfried Lorenz, Hans-Joachim Böhme und Herbert Häber ging. Zur Last gelegt wurden ihnen vier Mauertote und damit Totschlag – oder wie es in Justitias Sprache heißt, standrechtliche Verhängung der Todesstrafe. Justitias Weg bis zu diesem Prozess war lang und beschwerlich. Vielleicht deshalb sah es gestern das Gericht als nicht erwiesen an, dass sich die drei durch Unterlassung schuldig gemacht haben.

Justitia, warum verwirrst du uns? Kaum ein drei viertel Jahr her, war dein Urteil ein ganz anderes. Damals standen wegen derselben Mauertoten drei andere Politbüromitglieder – Günter Schabowski, Günther Kleiber, Egon Krenz – vor dir. Damals lautete dein Urteil: schuldig – sechseinhalb Jahre für Krenz, jeweils drei für Kleiber und Schabowski. Und schon damals hat dein Strafmaß Kopfschütteln erzeugt. Wenn sich die Angeklagten tatsächlich des Totschlags schuldig gemacht haben, hätten die Strafe drastischer ausfallen müssen. Du entschiedest sozusagen auf ein bisschen Totschlag.

Aber gut. Damals glaubten wir, dein Urteil sei weise. Schließlich haben die Angeklagten nicht selbst zugeschlagen, sondern „nur“ nichts gegen den Schießbefehl unternommen. Kein zwingendes, aber immerhin ein nachvollziehbares Argument.

Nur: Lorenz, Bezirkschef von Karl-Marx-Stadt, und Böhme, Bezirkschef von Halle, kommen jetzt frei, während Schabowski, Bezirkschef von Berlin, verurteilt wird. Wirtschaftsexperte Kleiber, für den Ostblock zuständig, muss hängen, während Wirtschaftsexperte Häber, für die Kontakte Richtung Westen zuständig, ziehen darf. Justitia, wo liegt da die Logik? Oder anders gefragt: Wie anders hätten die Politbüromitglieder Krenz, Schabowski und Kleiber nichts gegen das Grenzregime tun müssen, um so wie die Politbüromitglieder Lorenz, Häber und Böhme frei gesprochen zu werden?

Das gestrige Urteil sollte eigentlich das letzte zur juristischen Aufarbeitung des DDR-Grenzregimes sein. Justitia, du bist nicht am Ziel. Du hast dich kurz vor Schluss verlaufen. Angesichts der gestrigen Urteile bleibt dir nur: die Urteile gegen andere einfache Politbüromitglieder zu revidieren. Ansonsten wird der Vorwurf von politisch motivierter Rechtsprechung der Bundesrepublik nur schwer zu widerlegen sein. NICK REIMER