Erster Freispruch bei Mauerprozessen

Politbüromitglieder waren selbst überrascht: Für Gericht blieb unklar, ob sie die Mauertoten verhindern konnten

BERLIN taz ■ Von einem „politischen Prozess“ hatte der frühere SED-Bezirkschef Siegfried Lorenz zu Beginn der Verhandlung gesprochen. Doch als gestern das Urteil im zweiten Politbüro-Prozess fiel, war wohl keiner mehr überrascht als er. Denn erstmals ist ein Verfahren gegen DDR-Spitzenpolitiker mit Freisprüchen zu Ende gegangen.

Lorenz und den beiden Mitangeklagten Herbert Häber und Hans-Joachim Böhme sei nicht nachzuweisen, dass sie die Toten an der innerdeutschen Grenze hätten verhindern können.

Das Gericht sei sich im Klaren, so Richter Hans Luther, dass es mit seinem Urteil „juristisches Neuland“ betrete. Schließlich sei Totschlag durch Unterlassen in Zusammenhang mit den Mauertoten bisher nicht verhandelt worden. Der Oberstaatsanwalt hatte den Angeklagten vorgeworfen, dass sie den Tod der Flüchtlinge an der Mauer zumindest billigend in Kauf genommen hätten. Als Mitglieder des SED-Politbüros hätten sie es unterlassen, auf eine „Humanisierung des Grenzregimes“ hinzuwirken. Er hatte deshalb für Lorenz und Böhme je zwei Jahre und neun Monate Haft gefordert. Bei Häber, der wegen seiner Politik der Öffnung zum Westen unter starkem politischen Druck gestanden habe, plädierte er für zwei Jahre auf Bewährung.

Auch die Richter hatten die Bemühungen des früheren SED-Westexperten Häber um eine „Politik der Vernunft“ gewürdigt. Er sei nicht untätig gewesen, sondern habe sich vielmehr um Erleichterungen im Grenzverkehr bemüht. Böhme und Lorenz mussten sich dagegen anhören, dass sie „schlicht untätig waren, nicht mehr und nicht weniger“ – auch wenn sie nicht an den gesetzeswidrigen Schießbefehlen mitgewirkt hätten. Die vielen Toten an Mauer und Stacheldraht dürften auch ihnen bekannt gewesen sein.

Angehörige und Freunde der Angeklagten, die den gesamten Prozess von der Besuchertribüne aus verfolgt hatten, nahmen das Urteil mit Freude auf. Auch wenn sie stets auf Freispruch für die Genossen gepocht hatten – daran geglaubt hatte wohl keiner von ihnen so recht. Am Ende hatten sie sogar Lob für das Gericht übrig: „Ein mutiges Urteil.“

Der Vorsitzende Hans Luther hatte aus der eigenen Unsicherheit kein Hehl gemacht. „Die Entscheidung kann richtig sein. Sie kann aber auch falsch sein, was Böhme und Lorenz angeht.“ Und er hat wohl auch schon damit gerechnet, dass das Urteil nicht unwidersprochen bleiben wird. Darüber werde „der sehr viel schlauere Bundesgerichtshof“ entscheiden. Das war wohl gar nicht ironisch gemeint. Doch es unterstrich den Eindruck, dass sich die 32. Große Strafkammer nur widerwillig in der Rolle des Richters über das DDR-Regime wieder fand. Vier Jahre lang lagerte die Anklage in den Gerichtsschränken, im Mai begann endlich die Verhandlung. Wohl auch, weil der Bundesgerichtshof erst im vergangenen November das Urteil im ersten Politbüro-Prozess bestätigt hatte.

Wie zu erwarten kündigte Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz umgehend Revision an. Ob der Freispruch für Häber, Böhme und Lorenz Bestand hat, werden auch nun wieder die Bundesrichter entscheiden müssen. NICOLE MASCHLER