Ein blendendes Manöver

Die USA inszenieren den fünften Raketentest wie einst die Mondlandung – und als ob von ihm eine Entscheidung über das Abwehrsystem abhinge

von PETER TAUTFEST

Es sollte das ganz große Schauspiel werden: Vergangene Nacht, als Europa schon im Tiefschlaf lag, in Kalifornien aber die Sonne gerade im Pazifischen Ozean malerisch versank, sollten sich bei Vandenburg, einer Luftwaffenbasis nördlich Los Angeles, auf einer Anhöhe mit Blick auf ein Abschussrampe und das Meer einige hundert Menschen – Militärs, Politiker, Techniker, Reporter. Auch unten am Strand sollten sich Schaulustige einfinden, als ob der Abschuss dieser Rakete so gewaltig sei wie ehedem Atlas-, Titan-, und Saturnraketen. Doch Pentagon und Boeing, Presse und Politik versuchen dieselbe Spannung von damals zu erzeugen, als es noch um Weltraumflüge und Mondlandung ging.

Exoatmosphärische Kill Vehicle

Doch was heute Nacht in den Himmel gestiegen ist, war eine vergleichsweise dünne Rakete, deren Ladung aus einer unscharfen Bombe und einem Luftballon als Gefechtskopfattrappe bestand. Kurze Zeit später sollte – so hat es das Pentagon geplant – weit draußen im Pazifik vom Kwajalein Atoll aus eine andere, eine Abwehrrakete starten. Frühwarnsatelliten und eine bodengestützte Radarstation haben nämlich die Rakete gesichtet und als feindlich eingestuft. Sie haben Daten über Flugrichtung und Geschwindigkeit in ein „Schlachtmanagement Center“ nach Colorado Springs gesendet, von wo aus diese Informationen dem „Exoatmosphärischen Kill Vehicle“ (EKV) gefunkt werden, das sich gerade von seiner zweistufigen Trägerrakete gelöst hat und auf den aus Vandenburg kommenden Gefechtskopf zurast.

Dieses kaum einen Meter lange Killervehikel ist ein Wunder aus miniaturisierter Technik. Es ist mit Aggregaten, Computern und Sensoren bestückt und hat Treibstoff an Bord, um selber Bahnkorrekturen vornehmen zu können. Eigenen Sprengstoff braucht es nicht. Denn wenn das Zusammenspiel von Bodenradar und Satellitendaten, Schlachtzentrum und Selbststeuerung klappt, rasen EKV und Gefechtskopf mit einer Geschwindigkeit von 7,3 Kilometer pro Sekunde (!) zu, die bei einem Treffer freigesetzt zu einem gleißenden Blitz in 230 Kilometer Höhe über dem Pazifik führen wird. Vorher hat das schlaue Abwehrgeschoss allerdings noch 30 Sekunden Zeit gehabt, die feindliche Raketenspitze von einer mitgeführten Attrappe zu unterscheiden.

Wie das geht, das wollte der Sprecher des Pentagon nicht sagen, aber es geht. An der Frage, ob ein noch so schlaues Killervehikel wirklich einen Hagel aus Attrappen von einer richtigen Bombe unterscheiden kann, entzünden sich die Kontroversen. Die Trümmer stürzen zur Erde zurück und verglühen in der Atmosphäre. Was allerdings passieren würde, wenn der Gefechtskopf eine Atombombe wäre, wusste der Sprecher des Pentagon nicht zu sagen.

Fälschung oder Flop

Insgesamt ist dies der fünfte von 21 Tests. Von den Ergebnisse der ersten beiden Tests behauptet Theodore Postol, ein eher fortschrittsgläubiger Wissenschaftler am Massachusetts Institut of Technology (MIT), dass sie gefälscht sind. Ein entsprechendes Schreiben ans Weiße Haus wurde vom Pentagon sogleich zur Geheimsache erklärt. Bei den nachfolgenden beiden Tests sollte die „feindliche“ Rakete getroffen werden. Einer davon gilt nur als halber Erfolg, weil das Killergeschoss zunächst auf den Ballon zuraste, der zweite ging gänzlich daneben. Insgesamt misslangen 70 Prozent aller Tests, die im Rahmen der Idee einer Raketenabwehr durchgeführt wurden.

Gelingen oder Misslingen dieses Schusses nun soll Clinton eine Entscheidungshilfe für oder gegen eine Raketenabwehr an die Hand geben. Auch wenn ein Scheitern dieses Versuchs Clinton einen Ausweg öffnet, die Entscheidung scheint längst gefallen zu sein – ungeachtet der astronomischen Kosten, der tatsächlichen Bedrohung und der Gefahr scheiternder Abrüstungsverhandlungen mit Russland und China.

Streit der Geheimdienste

Zweifel am Zusammenspiel dieser komplizierten Hochtechnologie sind allerdings auch dann angebracht, wenn der Test gelingen sollte. Nicht eines seiner Bestandteile ist wirklich fertig. Das EKV ist so störanfällig, dass es nicht geschüttelt werden darf. Gleichwohl muss die Entscheidung über den Baubeginn in Alaska noch in diesem Jahr fallen, soll ein Zeitplan eingehalten werden, der für das Jahr 2005 etwa 20 startklare Raketen vorsieht.

Innerhalb von Amerikas Geheimdienstorganisationen ist ein heftiger Streit um die tatsächliche Gefahr von Raketenangriffen ausgebrochen. Beschworen hatte die Verwundbarkeit Amerikas 1998 der so genannte Rumsfeld Report, den eine Untersuchungsgruppe unter Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld erarbeitet hatte. Inzwischen ist umstritten, wie unmittelbar diese Gefahr ist (Korea hat sein Raketenprogramm inzwischen eingestellt), und der für diesen Monat erwartete Lagebericht, den CIA und die Geheimdienste von Pentagon und State Department ausarbeiten, wird davon ausgehen – so viel sickerte schon durch –, dass die größere Gefahr vom Wettrüsten ausgeht, das eine amerikanische Raketenabwehr in Asien auslösen würde.