Querdenken mit Würgeschlangen und Nilpferden

Jungunternehmer sehen dich an

Illustriertenroman, Erscheinungsform der Trivialliteratur in der illustrierten Wochenpresse, inhaltlich zumeist gleichlaufend mit dem trivialen Kriminal- oder Liebesroman, formal dem Fortsetzungsroman verwandt, jedoch mit der Ausnahme, daß der erfolgreich ankommende Illustriertenroman weiter ausgebaut, der erfolglose rasch vorzeitig abgeschlossen werden kann.

(Gero von Wilpert: „Sachwörterbuch der Literatur“, 7. Auflage, 1998)

Der Spiegel druckt Woche für Woche neue Geschichten aus der Welt der Start-ups und IT-Jungunternehmen, dem „schnellsten und schärfsten Business, das es derzeit gibt“. Die Protagonisten dieses Fortsetzungsromans sind „hoch flexibel, risikofreudig und vor allem auf sich selbst bezogen“, aber im spätkapitalistischen Plot ist auch die menschliche Tragödie angelegt: „Meine Partnerin wollte nicht länger mit einem Mann zusammenleben, der spät abends nach Hause kam, um sich dann wie ein nasser Sack in den Sessel zu hängen“, berichtet ein 36-jähriger Internet-Unternehmer von den sozialen Folgen seines Twenty-four-seven-Burn-outs. Inzwischen hat er sich allerdings von der Droge „kurzfristiger Erfolg“ abgewandt. Der geläuterte Unternehmer ließ für seine Mitarbeiter eine Grillecke und einen Fitnessbereich einrichten und erklärte Freizeit zur Angelegenheit firmeninterner Fortbildung. „Wir wollen Internet Business und Fun miteinander verbinden“, so auch der Verein Berlinstartup.de und veranstaltete auf dem Alexanderplatz ein Beachvolleyball-Turnier der hiesigen IT-Branche: Schluss mit dem „Klischee vom bleichgesichtigen Computerfreak ohne Interessen“. Ein Wochenende lang zeigten die Jungunternehmer, wie normal sie sind.

Nun sind bekennende Stress-User bekanntlich interessanter als anonyme Worcaholics auf Entzug und beim Ballspielen. Die Illustriertenromane im Spiegel und anderen Magazinen dürften deshalb bald abgeschlossen sein. Die in Berlin ansässige Agentur Pas de Deux setzt gewissermaßen genau an dieser Stelle ein und erfindet unter dem Label „creativ consult“ neue Geschichten: „Wir entwickeln Stories, die ein Produkt oder eine Person emotional verkaufen“, erklärt Kirstin Schönberg von Pas de Deux bei einem „Strategieseminar für kreative Querdenker“ im Zoologischen Garten Berlin und erläutert ihre Theorie der „Informationsspitzen“: Marketing, besonders Selbstmarketing braucht scharf gezirkelte Spannungsbögen und emotionale Höhepunkte.

Die erste Informationsspitze löst im Berliner Zoo dann ein Rüssel aus, der der Seminargruppe durch die Tür des Elefantenhauses entgegenkommt. Die Gruppe teilt sich augenblicklich entlang der Typologie, die schon auf der Einladung anklang – in die eher zurückhaltenden, schüchternen Menschen, die ihre „Ideen nur sehr leise und im kleinen Kreis“ offenbaren (und angesichts des Rüssels einen Schritt zurücktreten); und in Menschen von der Art eines „Sicherheitsrisikos, die festgefügte und sichere Strukturen zum Einsturz bringen könnten“. Letztere schieben sich zum Entsetzen der Tierpfleger umgehend zwischen die Elefantenkühe.

Nachdem der Bart von Flusspferd Katie gekrault, ein Spitzmaulnashorn mit Apfelstücken gefüttert und eine Würgeschlange gestreichelt worden ist, geht das Seminar im großen Konferenzraum des Zoos weiter. Vor den Bauplänen zum neuen Pinguinhaus leitet Frau Schönfeld zum theoretischen Teil über: „Sie kommen heute nur weiter, wenn sie den Menschen Risiken spielend vermitteln.“ Die Schüchternen wie die Sicherheitsrisiken denken an die Elefanten und nicken.

Sie haben große Erwartungen. Zu Pas de Deux gehen nicht die in den Illustrierten gefeierten Start-up-Unternehmer. Frau Schönfeld berät klassische Freiberufler, etablierte Unternehmer und leitende Angestellte, manchmal auch freie Künstler oder Studenten, die unter den Stichwörtern „Risiko“ und „Querdenken“ auf Anregungen für den eigenen Karriereroman hoffen: unter wilden Tieren im Berliner Zoo oder einem Vortrag, bei dem der Talk-Show-Prominente und Nürnberger Anti-Hotelier Klaus Kobjoll als Modell für „clevere Selbstvermarktung“ vorgeführt wird. Es sind Menschen, die mit einer gewissen Renitenz daran glauben, dass auch ihre Zeit noch kommen könnte: Während die New Economy auf ihre erste Krise hinsteuert, in den USA Initiativen gegen die Börsenhysterie gegründet werden, Emmissionspreise deutlich unter 25 Euro vermeldet werden und das venture capital zunehmend zögerlicher fließt, bereitet die Agentur Pas de Deux ihre Kunden auf den Tag danach vor.

Sollte das Beispiel Schule machen, wird Berlin zum Ausgangspunkt einer neuen Bewegung werden: Der inszenierten und zum Scheitern verdammten Beachvolleyball-Konformität der Start-ups wird die inszenierte Unangepasstheit eines neuen alten Mittelstands entgegengesetzt – in einer strategischen und zugleich romantischen Rückbesinnung auf die traditionellen Werte der nonkonformistischen Pädagogik: „Haben Sie den Mut anders zu sein“, sagt Frau Schönfeld: „Vielleicht werden sie gerade deswegen geliebt.“ Es ist eine schöne Vorstellung, dass es möglicherweise in naher Zukunft gar nicht um Emissionswerte oder Buy-outs gehen wird, sondern um Informationsspitzen und andere zarte Gefühle: Die Erzählungen des Postkapitalismus könnten Romanzen sein.

KOLJA MENSING